Schutz von Schlüsselindustrien – Die Aufgabe des Nationalstaates

Die zentrale Aufgabe eines Nationalstaates ist – auch und gerade im Zeitalter internationaler Kooperation – der Schutz seiner Kernindustrien

Die Investitionsneigung in Deutschland war im Jahre 2008 nach wie vor recht hoch. Außerdem wirden im Zuge von Kapitalisierungen überdurchschnittliche Technologien entwickelt. Hinzu kamen eine sehr starke Betätigung im Außenhandel und die Ausstrahlung auf andere Branchen, da die Nachfrage nach Vorleistungsgütern oder Zwischenprodukten beträchtlich war – diese Aspekte beziehen sich auf die deutschen Schlüsselindustrien und wurden in einer anno 2009 erschienenen Studie der zum Deutschen Gewerkschaftsbund gehörenden Hans-Böckler-Stiftung herausgearbeitet.

Für den Laien zunächst eine Begriffserklärung: Schlüsselindustrien (auch: Kernindustrien) sind Industrien, deren Aufträge, Bestellungen und/oder Lieferungen/Zulieferungen andere Wirtschaftszweige wirtschaftlich wesentlich beeinflussen. Auf Staatsebene haben sie den größten Anteil am Produktionswert einer Volkswirtschaft. Daher ist es je nach Land unterschiedlich, was als Schlüsselindustrie gilt. „Es sind Branchen, die für die jeweilige Volkswirtschaft von besonderer Bedeutung sind, überdurchschnittlich zum Wirtschaftswachstum beitragen oder für die internationale Wettbewerbsfähigkeit besonders wichtig sind.“ (Klaus Löbbe/Hans-Böckler-Stiftung: Schlüsselsektoren der deutschen Wirtschaft: Abgrenzung, Bedeutung und industriepolitische Optionen“, 2009, S. 30)

Das Kabinett Gerhard Schröder II (2002-2005) definierte 2004 die Schlüsselbranchen als „Industrien, die aufgrund intensiver Vorleistungs- und Abnehmerverflechtungen die Entwicklung einer Vielzahl anderer Branchen mitbestimmen“. Neben der chemischen Industrie werden in der Bundesrepublik noch die Automobil-, die Bau- und die Elektroindustrie, die Energieerzeugung, der Maschinenbau und die Werften zu den Schlüsselindustrien gerechnet.

Im Zusammenhang mit jenen federführenden Wirtschaftssektoren ließ vor rund einem Jahr eine Meldung aufhorchen: Der stellvertretende SPD-Bundesvorsitzende Thomas Kutschaty empfahl seinerzeit für bestimmte Fälle eine staatliche Beteiligung an Unternehmen der Schlüsselindustrien. Kutschaty laut „WELT online“ wörtlich: „Ich halte eine Staatsbeteiligung für möglich, wenn das Unternehmen dies braucht und sich dazu entscheidet. Der Staat würde dann Aktien von dieser Gesellschaft erwerben und Eigentümer werden. Wir kennen das von Volkswagen und von der Salzgitter AG im Stahlbereich.“

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Der SPD-Politiker und Jurist Thomas Kutschaty (* 12. Juni 1968 in Essen) ist seit dem 8. Juni 2005 Mitglied des Landtags Nordrhein-Westfalen und seit dem 11. Dezember 2021 stellvertretender Bundesvorsitzender der SPD.

Die Salzgitter AG, 1941 vom Deutschen Reich gegründet, verfolgte zunächst den Zweck, Berg- und Eisenhüttenwerke sowie Nebenbetriebe dieser Art zu planen, zu errichten und zu betreiben. 1950 erfolgte eine Firmenänderung in AG für Bergbau- und Hüttenbetriebe; seit 1961 trägt das Riesenunternehmen den Namen Salzgitter AG. Heute ist die SAG ein Stahlkonzern, zu dem etwa 100 einzelne Unternehmen gehören. Derzeit (Stand 2022) hält das Land Niedersachsen an der Salzgitter AG 26,5 Prozent der Anteile, das Unternehmen selbst zehn Prozent. Daneben gibt es noch institutionelle Anleger (25,1 %), Privatanleger (12,0 %), die GP Günter Papenburg AG (25,1 %) und andere Aktionäre (1,3 %).

An der Volkswagen AG hält das Land Niedersachsen über die Hannoversche Beteiligungsgesellschaft mbH 20,0 % der Anteile im Hinblick auf die Stimmrechtsverteilung und 11,8 % hinsichtlich der Anteile am gezeichneten Kapital.

Konsequente Behandlung in China

Für Kutschaty ist mit Blick auf Staatsbeteiligungen auch der psychologische Aspekt von Bedeutung: „Eine staatliche Beteiligung von bis zu 25 Prozent hat eine starke Ausstrahlung auf andere Investoren und ist zugleich stabilisierend. Man sendet damit das Signal, daß der Staat auch an den Erfolg glaubt.“ Natürlich, so Kutschaty, könne es nicht darum gehen, „daß der Staat jetzt in allen Bereichen zum Unternehmer wird“, doch falle ihm die Aufgabe zu, sich um die Schlüsselsektoren zu kümmern.

Kutschaty, von 1997 bis 2010 als Rechtsanwalt tätig, brachte – nicht unbedingt typisch für einen Vertreter der BRD-Polit-Nomenklatura – auch den nationalen Aspekt ins Spiel: „Der Stahl ist eine solche Schlüsselindustrie, weil wir nicht auf Stahlimporte angewiesen sein sollten. Die jüngsten Lieferengpässe zeigen, wie schwierig es ist, wenn wir zu sehr aufs Ausland angewiesen sind.“ Stahl sollte in Zukunft nicht nur noch in China und Indien hergestellt werden. Eine weitere Schlüsselindustrie sei „die Chemie mit ihren energieintensiven Unternehmen“.

Konsequent wird das Thema Schlüsselindustrie in China behandelt. Dort gab es dem Nationalen Statistischen Büro zufolge 2017 etwa 27 Millionen private Firmen und 65 Mio. individuelle Unternehmungen. Demnach erbrachten die Privaten 60 Prozent des Brutto-Inlands-Produktes (BIP). Auch gingen aus ihnen 65 Prozent der angemeldeten Patente und 75 Prozent der technischen Innovationen hervor. Und nicht zuletzt stellt dieser Bereich 80 Prozent der städtischen Arbeitsplätze und 90 Prozent der neuen Jobs.

Doch bestimmte Filetstücke sind in China eben nicht dem privaten Sektor überantwortet worden. So hält der Manager Dr. Uwe Behrens in seinem 2021 in zweiter Auflage erschienenen Buch „Feindbild China – Was wir alles nicht über die Volksrepublik wissen“ fest, „daß kein staatseigener Betrieb (State Owned Enterprise, SOE) in ein privates Unternehmen umgewandelt wurde“. 2021 gab es noch etwa 100 dieser SOEs, die einer Staatlichen Kommission für Vermögensaufsicht und -verwaltung des Staatsrates (SASAC), vergleichbar einem Ministerium, unterstehen.

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Dr. Uwe Behrens (* 24. September 1944 in Prag) ist ein promovierter Transportökonom, Unternehmer in China und Indien sowie ausgewiesener China-Spezialist.

Die Unternehmen sind nahezu ausschließlich in Bereichen der Grundversorgung tätig: Neben der Infrastruktur und der Telekommunikation handelt es sich um Energieversorgung, Finanz- und Versicherungswesen sowie um Gesundheitswesen und Pharmazie. Dabei kann jedoch keineswegs von einem starren System die Rede sein. So besteht für die Leitungen die Möglichkeit, weitgehend eigenständig zu operieren. Der Staat erblickt seine Funktion in der Verwaltung des investierten (Staats-)Kapitals in den strategisch bedeutsamen Sektoren. Ineffektive Einheiten wurden veräußert; private Kapitalbeteiligungen sind möglich. Zudem bestehen strenge Auflagen beim Umweltschutz.

Stabile Palisadenzäune

Auch in einer Reihe europäischer Nationen werden Sahnestückchen mit einem stabilen staatlichen Palisadenzaun umgeben. Beispiel Frankreich. An der Werft Chantiers de l’Atlantique in Saint Nazaire, gelegen an der Atlantikküste, hält der französische Staat 84,3 Prozent der Anteile. Ein ähnliches Bild ergibt sich bei Europas größtem Schiffbauunternehmen, den Fincantieri – Cantieri Navali Italiani S. p. A., an dem der italienische Staat über die Cassa Depositi e Prestiti mit – Stand: Januar 2023 – 71,32 Prozent beteiligt ist. Die beiden Giganten sind hinsichtlich der Fertigungspalette breit aufgestellt. Während die Franzosen u. a. Fahrgast-, See- und Spezialschiffe bauen, laufen bei Fincantieri neben Kreuzfahrtschiffen Megayachten und Kriegsschiffe vom Stapel.

Und die Bundesrepublik? Hier reichen die Regierungen von Bund und Ländern Schiffbau-Bürgschaften aus, ohne letzten Endes direkte Einflußmöglichkeiten zu besitzen. Immerhin faßte die damalige Bundesregierung im Februar 2020 den Beschluß, den Marine-Überwasserschiffbau als nationale verteidigungsindustrielle Schlüsseltechnologie einzustufen, womit rein nationale Ausschreibungen ermöglicht wurden und nur deutsche Werften zum Zuge kommen.

Im Hinblick auf die Automobilindustrie verfügt der nicht-private Sektor – von der bereits erwähnten Beteiligung des Landes Niedersachsen an der Volkswagen AG einmal abgesehen – zwar über keine direkten Beteiligungen. Doch wurde der Bereich Forschung und Entwicklung (F und E) in der jüngeren Vergangenheit mit Fördergeld unterstützt. So reichte das Wirtschaftsministerium zwischen 2007 und 2016 insgesamt etwas über 340 Millionen Euro für den F- und E-Sektor aus. Im gleichen Zeitraum gewährte das Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur Forschungs- und Entwicklungsprojekten im Automobilsektor rund 210 Mio. Euro; das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit unterstützte entsprechende Vorhaben mit zirka 95 Mio, das Bildungs- und Forschungsministerium mit nahezu 324 Mio.

Bezogen auf die Jahre 2021 bis 2024 profitiert der Sektor von Fördergeldern in Höhe von 1,5 Mrd. Euro, die der Transformation der deutschen Autoindustrie dienen sollen, wobei die Schwerpunkte neben dem autonomen Fahren auf einer digitalisierten Produktion und dem Umstieg auf alternative Antriebe liegen.

Wirtschaftspolitische Neutralität des Grundgesetzes

Die wirtschaftlichen Strukturen der BRD stehen im übrigen nicht auf der Liste gefährdeter Arten. Heißt es doch im Artikel 15 des Grundgesetzes (GG): „Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel können zum Zwecke der Vergesellschaftung durch ein Gesetz, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt, in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft überführt werden.“ Im Nomos-Kommentar zum GG von Hömig und Wolff (11. Auflage, 2016) wird die wirtschaftspolitische Neutralität des Grundgesetzes festgestellt. Es enthält demnach „keine unmittelbare Festlegung und Gewährleistung einer bestimmten Wirtschaftsordnung“. Damit kann im Artikel 15 „weder ein Verfassungsauftrag zur Sozialisierung noch ein Gebot gesehen werden, alles zu unterlassen, was eine künftige Sozialisierung erschweren könnte; die Vorschrift stellt vielmehr eine Ermächtigung an den Gesetzgeber dar, dessen politischen Entscheidungen es überlassen bleibt, ob und in welchem Umfang er davon Gebrauch macht.“

Zu Sozialisierungen auf Bundesebene kam es bislang zwar nicht. Doch zwei Jahre vor Gründung der BRD im September 1949 preschte die CDU in ihrem „Ahlener Wirtschaftsprogramm“ vom Februar 1947 mit einer Forderung vor, die geradezu national-sozialistische Tendenzen aufwies. So lesen wir dort u. a.: „Kohle ist das entscheidende Produkt der gesamten Volkswirtschaft. Wir fordern die Vergesellschaftung der Bergwerke.“ Dasselbe wurde für die „eisenschaffende Großindustrie“ verlangt.

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Als die CDU noch halb national-sozialistisch argumentierte: Das Ahlener Programm ist ein am 3. Februar 1947 im Gymnasium St. Michael in Ahlen (Münsterland) unter dem Motto „CDU überwindet Kapitalismus und Marxismus“ beschlossenes Wirtschafts- und Sozialprogramm der CDU der britischen Zone. – Wandbild an der Beckumer Straße in Ahlen zum Ahlener Programm (Lizenz: Creative Commons by-sa-3.0 de).

Wer also heute in seinem politischen Programm die Wiederherstellung der staatlichen Kontrolle über Bahn, Post, Energielieferer und das Gesundheitswesen fordert, dürfte – vor dem Hintergrund der wirtschaftspolitischen Neutralität des GG – auch nicht vom sogenannten „Verfassungsschutz“ überwacht werden. – Oder etwa doch...? „Haldenwang, ick hör' dir trapsen.“

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