Infrastruktur: Ein gewaltiger Investitionsbedarf

Die älteren Einwohner der sogenannten Neuen Bundesländer werden sich noch gut erinnern: Nach dem Fall der Mauer im November 1989 machten Reizvokabeln, ja Kampfbegriffe wie „40 Jahre SED-Mißwirtschaft“ oder „marode DDR“ tagaus, tagein die Runde. Sie wurden zumeist von westdeutschen Politikern in den Ring geworfen und fanden, oft wiederholt, Eingang in den Sprachschatz

Reichlich drei Jahrzehnte später präsentiert sich die Bundesrepublik Deutschland in einem ebenso desolaten Zustand. Das einst weltweit geachtete deutsche Bildungssystem gleicht einem schwerkranken Patienten. Die Bundeswehr – einmal abgesehen von Eliteeinheiten wie beispielsweise Fallschirmjägern oder Kampfschwimmern – ähnelt in technischer wie personeller Hinsicht einer vor sich hinvegetierenden Asthma-Truppe. Doch auch die Infrastruktur ist in beträchtlichen Teilen auf ein Dritte-Welt-Niveau herabgesunken.

Dabei ist die regierungsseitig verkündete Verkehrswende vom Grundsatz her zu begrüßen. Denn wer will nicht einen attraktiven, Stadt und Land miteinander verbindenden Öffentlichen Personen-Nah-Verkehr (ÖPNV)? Und wer will schon auf Dauer Straßen haben, die nichts anderes sind als Buckelpisten, und über Brücken fahren, die ihre besten Zeiten bereits hinter sich haben?

Alarmierende Fakten

Anspruch und Wirklichkeit klaffen aber, wie bereits  angedeutet, weit auseinander. Erst im August präsentierte das Deutsche Institut für Urbanistik (Difu) eine im Auftrag des Hauptverbandes der Deutschen Bauindustrie, des ADAC und des Verbandes Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) erstellte Studie. Ihr nüchterner Titel: „Investitionsbedarfe für ein nachhaltiges Verkehrssystem“. Die Erhebung fördert durchaus alarmierende Fakten zutage. So bewerten die Kommunen im Hinblick auf den baulichen Zustand ein Drittel ihrer bestehenden Streckennetze für sämtliche Verkehrsträger zwar mit „gut“ und besser. Doch offenbaren gleichfalls ein Drittel der Straßen größere Mängel. Zudem befindet sich nahezu jede zweite Straßenbrücke in den Kommunen in keinem guten Zustand. Handlungsbedarf besteht auch bei den Netzen des ÖPNV. Hier sind immerhin 15 Prozent der Strecken in einem miserablen Zustand.

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Der sich daraus ergebende Investitionsbedarf ist gewaltig. Die Autoren der Studie schätzen ihn für alle untersuchten Infrastrukturbereiche bis zum Jahr 2030 auf insgesamt 372 Milliarden Euro. Der mit Abstand größte Teil entfällt dabei auf den Nachhol- und Ersatzbedarf bei der Straßen-Infrastruktur. Für diesen Bereich werden 283 Milliarden veranschlagt. Im Hinblick auf die Erweiterung der Straßen- und ÖPNV-Infrastruktur ergibt die Difu-Modellschätzung einen Finanzbedarf in Höhe von 25 Milliarden, wobei hier in erster Linie die wachsenden Städte gemeint sind.

Den baulichen Zustand der Verkehrs-Infrastruktur haben die Mitarbeiter der Studie durch eine Befragung der Kommunen ermittelt. Das so gewonnene Datenmaterial diente als Grundlage für die Abschätzung der Nachhol-, Ersatz- und Erweiterungsbedarfe.

Wachsende Zahl angemeldeter Projekte

Die Urteile der Auftraggeber der Studie fallen eindeutig aus. So erklärte Oliver Wolff, Hauptgeschäftsführer des VDV, im Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur: „Wir haben immer betont, dass der angestrebte Fahrgastzuwachs und die Verlagerung auf den ÖPNV vor allem dann nachhaltig funktioniert, wenn das Angebot für die Menschen attraktiv genug ist. Dazu gehört neben dem notwendigen Ausbau des Angebots vor allem eine gute und leistungsfähige Infrastruktur.“ Auch hält Wolff eine Erhöhung der Mittel für zwingend geboten. Der VDV-Funktionär erklärt auch, warum. So sei zur Zeit beim sogenannten Gemeindeverkehrsfinanzierungs-Gesetz (GVFG) eine wachsende Zahl angemeldeter Projekte zu beobachten, woraus Wolff folgert: „Die jährlichen GVFG-Fördermittel werden daher ab 2025 nicht mehr ausreichen, so daß wir hier eine Erhöhung von zwei auf zunächst der Milliarden Euro jährlich für geboten halten.“

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Oliver Wolff ist seit 2011 Geschäftsführer des VDV und wurde nun in seiner Position bestätigt Photo: VDV.

Tim-Oliver Müller, Haupt-Geschäftsführer des Hauptverbandes der Deutschen Bauindustrie, legt seine salzigen Finger noch fester in die klaffenden Wunden des momentanen Systems: „Wir reden hier über wesentliche Grundbedürfnisse, über die Mobilität von Bürgerinnen und Bürgern, die Verbindung von Stadt und Land.“ Eine im Kern gesunde Verkehrsinfrastruktur bezeichnet er als „essentiell für unsere Gesellschaft und Wirtschaft“. Deshalb werde für die Bundesrepublik ein Verkehrsplan benötigt, „der nicht in Legislaturperioden und regionalen Zuständigkeiten denkt, sondern den flächendeckenden Verkehr ermöglicht“. Die Bauwirtschaft und ihre mittelständischen Firmen „sind lokal und regional vor Ort, haben das Know-how und die Kapazitäten, um die politischen und gesellschaftlichen Ziele umzusetzen“ – dazu brauche seine Branche aber „Planungs- UND Projektbeschleunigung, die nicht bei Genehmigungs- und Planungsverfahren aufhören“. Gefragt sei hierbei „ein flexibles Vergaberecht – also weg von der ausschließlichen Klein-klein-Vergabe, hin zu einer Vielfalt von Vergabemodellen, wenn wir zügiger und produktiver werden wollen“.

Denken in längeren Zeiträumen

In der Tat: Seit Jahren fordern Fachleute eine Deregulierung des Vergaberechts. Bisher ist der Prozeß der Ausschreibung eines Bauprojekts bis hin zu den ausgeschriebenen Bauleistungen von eher kleinen Schritten geprägt, womit die derzeit vorherrschende Zersplitterung der Bauwirtschaft noch befördert wird. Ausschreibungen laufen parallel, weil im allgemeinen nicht sämtliche Leistungen von einem Unternehmen erbracht werden können bzw. dürfen. In der Folge werden dann aber Bauprojekte nicht als Einheit gedacht, sondern die Abläufe zerfallen in viele einzelne Stränge, die von hochkomplexen Regelungen gekennzeichnet sind. Kurzum: Die Effizienz geht verloren.

Tim-Oliver Müller stellt zudem – ohne es vielleicht gewollt zu haben – die Systemfrage. Denn der Parlamentarismus beruht ja gerade auf dem bloßen Denken in Legislaturperioden. Was Deutschland dagegen dringend nottut, ist eine aus unbedingten Fachleuten bestehende Führung, die in der Lage ist, in Zusammenhängen zu denken, die längere Zeiträume umfassen. Was spricht beispielsweise dagegen, Zehn-Jahres-Pläne zu erarbeiten, die mit dem Ziel verbunden sind, ein heruntergewirtschaftetes Land – natürlich unter Einbeziehung der klein- und mittelständischen Wirtschaft – wieder aufzubauen? Doch zugegeben: Das Wort „Planwirtschaft“ hat einen „schmuddeligen“ Beigeschmack, der allzusehr an die vor über drei Jahrzehnten untergegangene DDR erinnert …

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