Nachdem sich der Getreide-Exporthandel durch den militärischen Ukraine/Rußland-Konflikt über den üblichen Seeweg deutlich erschwert hatte, erließ die Europäische Union (EU) im Juni 2022 Regelungen zur Liberalisierung des Handels mit der Ukraine.
Daraufhin wurden bislang über 23 Millionen Tonnen ukrainisches Getreide durch die EU transportiert, wobei dies keineswegs vollumfänglich an afrikanische bzw. arabische Märkte ging, sondern auch auf dem europäischen Markt verkauft wurde. Letzteres erfolgte ungeachtet, ob die EU-Qualitätsstandards eingehalten wurden, was neben dem Überangebot das Entstehen problematischer Dumpingpreise beförderte. Bereits vergangenen November meldeten daher Polen, Bulgarien, die Slowakei, Ungarn und Rumänien bei der EU-Kommission Protest an, da deren heimische Landwirte dadurch massiv geschädigt würden.
Vor allem Großhändler und Mühlen kauften massenhaft das günstigere Getreide aus der Ukraine auf. Allein betreffend Polen ist von geschätzt vier Millionen Tonnen Weizen, Mais und Raps die Rede. Als der Weizenpreis um etwa 40 Prozent niedriger notierte als noch im Sommer 2022, hielten die Landwirte nicht mehr still. Am 17. März beispielsweise protestierte auf einer Landwirtschaftsmesse im südpolnischen Kielce – einer Stadt, die für ihre Neigung zu Pogromen historisch bekannt ist – eine wütende Gruppe von Landwirten in einer Vehemenz gegen den polnischen Landwirtschaftsminister Henryk Kowalczyk, daß dieser sich gezwungen sah, fluchtartig den Veranstaltungsort zu verlassen. Anfang April trat er von seinem Ministerposten zurück.
Nur fünf Tage darauf wurde der Minister während einer Podiumsdiskussion mit EU-Agrarkommissar Janusz Wojciechowski in Jasionka mit Eiern beworfen. Aufgrund der Proteste untersagten Polen, Ungarn, die Slowakei und Bulgarien Mitte April die Einfuhren von Getreide und anderen Agrarprodukten aus der Ukraine, woraufhin das ukrainische Außenministerium wenig diplomatisch und vielmehr anmaßend Polen und Brüssel eine Protestnote übersandte, in der diese Blockade als „kategorisch inakzeptabel“ bezeichnet wurde.
Wolodymyr Selenskyj und sein polnischer Amtskollege Andrzej Duda am 5./6. April 2023 in Warschau – „Eine Freundschaft für Jahrhunderte“...
Ein Solidaritätsbremser – Der Jurist Janusz Czesław Wojciechowski (* 6. Dezember 1954) ist Mitglied der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) und seit dem 1. Dezember 2019 EU-Kommissar für Landwirtschaft und ländliche Entwicklung.
Daraufhin simulierte die EU-Kommission Tatendrang, indem sie mit den sogenannten MOE-Staaten vereinbarte, daß bis zum 5. Juni (!) Weizen, Mais, Raps sowie Sonnenblumensamen und -öl aus der Ukraine nur durch die betreffenden Staaten transportiert, aber nicht verkauft werden dürfe. Dieser Beschluß wird angesichts voller Speicher und der nächsten Ernte, die vor der Tür steht, völlig wirkungslos bleiben. Zudem plant die EU die Zollfreiheit für die ukrainischen Agrarprodukte um ein weiteres Jahr zu verlängern.
Die polnische Unterstützung für die Ukraine überstand zwar den Raketenquerschläger im polnischen Przewodów im November vergangenen Jahres, doch der Trubel um den Weizen könnte nun zu einem ernsten Zerwürfnis führen. Immerhin befindet sich Polen in einem Wahljahr und die etwa 1,5 Millionen Landwirte stellen ein bedeutsames Klientel für die Regierungspartei PiS dar. Nicht zuletzt verzeichnet auch das ohnehin die Ukrainepolitik kritisierende patriotische Parteienbündnis Konfederacja zunehmende Erfolge.
Auch in der Slowakei, wo ebenfalls die Landwirte eine bedeutsame Wählergruppe darstellen, stehen in diesem Jahr Wahlen an, wo der Sozialdemokrat Robert Fico, bereits 2006-2010 und 2012-2018 slowakischer Ministerpräsident, der Sanktionen gegen Rußland und Waffenlieferungen an die Ukraine ablehnt, keineswegs chancenlos ist.
Es ist zudem kaum zu erwarten, daß sich das Überangebot in außereuropäische Märkte auflösen wird, da es in den hierfür relevanten EU-Ländern an der erforderlichen Infrastruktur und an den logistischen Möglichkeiten fehlt. Diesbezügliche Investitionen mußten womöglich zugunsten der Finanzierung von Waffenlieferungen zurückstehen. Der sogenannte Korridor der Solidarität für Getreidetransporte durch Europa gleicht mehr einem Stau oder zumindest einem Stopp-and-Go.
Neben 35 Prozent mittels Schienenverkehr und zwölf Prozent auf der Straße wird das Gros des ukrainischen Agrarexports auf dem Seeweg befördert. Nach Recherchen der Schiffahrtszeitschrift „Lloyd‘s List“ fließen etwa 70 Prozent des verdrängten Handels über den rumänischen Hafen von Konstanza, dessen Kapazitäten mit der Entwicklung nicht mehr Schritt halten können.
Konstanza, der größte Hafen am Schwarzen Meer, ist kapazitätsmäßig nicht in der Lage, noch mehr ukrainischen Weizen umzuschlagen.
Das Problem zwischen der Ukraine und den fünf mittel- und südosteuropäischen Staaten kann sich unter Umständen sogar noch verschärfen, denn das UN-Abkommen mit Rußland, das den Transport ukrainischen Getreides über die drei ukrainischen Schwarzmeerhäfen Odessa, Tschornomorsk und Piwdennyj ermöglicht, läuft am 18. Mai aus, und eine Verlängerung ist nach wie vor ungewiß. Moskau knüpft seine Zustimmung zur Verlängerung des UN-Abkommens an die Freigabe der Auslandsguthaben russischer Firmen aus dem Bereich Produktion und Transport von Lebens- und Düngemitteln, der Wiederaufnahme der Lieferungen von Landmaschinen nach Rußland sowie die Aufhebung der Sanktionen gegen die Russische Landwirtschaftsbank. Problemverschärfend kommt hinzu, daß auch in Schlüsselregionen wie Nordafrika, das einen der wichtigsten EU-Weizenmärkte darstellt, die Nachfrage nach Getreideimporten nachläßt, da die dortige Wirtschaft ins Stocken gerät, so Hélène Duflot, Weizenanalystin bei Strategie Grains.
Die nichtgewählte EU-Kommission glaubt dem Problemkomplex mittels Geldzahlungen beikommen zu können, was eigentlich Proteste in Deutschland auslösen sollte, da dieses mit deutlichem Abstand der Hauptnettozahler dieses technokratischen Molochs ist. Laut Handelskommissar Dombrovskis ist die Auszahlung von Hilfsgeldern in Höhe von 100 Millionen Euro aus der Agrarreserve an die fünf mittel- bzw. südosteuropäischen Mitgliedstaaten ein Teil der vorerst erreichten Einigung. Angeblich soll mit ca. 39 Millionen Euro der Großteil davon an Polen gehen. Auf Rumänien sollen etwa 30 Millionen entfallen, auf Ungarn 16 Millionen und auf Bulgarien und die Slowakei zehn und fünf Millionen Euro. Über diesen Vorschlag soll der Ausschuß der Gemeinsamen Marktordnung (GMO) entscheiden. Erst im März hatte Brüssel rund 56 Millionen Euro aus der Krisenreserve für Polen, Rumänien und Bulgarien zur Verfügung gestellt.
Bei alledem sollte man mit Blick auf die ukrainische Landwirtschaft nicht ausblenden, daß der Export ukrainischer Agrargüter in einem erheblichen Ausmaß auf nur einige Dutzend, riesige Flächen bewirtschaftende große ukrainische Agroholdings zurückzuführen ist, an denen in den zurückliegenden Jahren nicht unerheblich westliche Investoren Anteile erwarben.
Es geht also beileibe nicht um Wohl oder Wehe der mittleren oder gar kleineren ukrainischen Landwirte in diesem geldigen Spiel. Es geht auch nicht um Versorgungssicherheit.
Es geht – wie so oft – ums liebe Geld.