Der Niedergang einer industriellen Supermacht Was kommt als Nächstes?

Die deutsche Wirtschaft ist die am langsamsten wachsende unter den führenden entwickelten Volkswirtschaften. 2003 ist es das einzige Land der G7, dessen BIP schrumpfte – um 0,3 Prozent. Nach der Prognose der Commerzbank wird sich der Rückgang bis 2024 fortsetzen und ebenfalls -0,3 Prozent betragen.

Aber selbst wenn die optimistischere Prognose des IWF (+0,5 %) eintritt, ist dies immer noch weniger als die 0,6 % im Vereinigten Königreich und die 0,7 % in Italien.

Die beiden Hauptstützen der deutschen Wirtschaft – Industrie und Export – hinken. So schrumpfte die Industrieproduktion im Dezember um 1,6 Prozent gegenüber dem Vormonat und um 1,5 Prozent für das gesamte Jahr 2023. Die Exporte fielen im Dezember um 4,6 Prozent und im Jahresverlauf um 1,4 Prozent.

Die Angelegenheit ist jedoch viel ernster als nur ein paar Jahre wirtschaftlichen Abschwungs. Die Krise ist nicht konjunkturell, sondern strukturell bedingt. So sagte beispielsweise Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin, kürzlich in einem Interview mit CNN: „Deutschland braucht eine grundlegende wirtschaftliche Transformation. Das größte Problem für Deutschland sind nicht die nächsten zwei Jahre, sondern die nächsten zehn Jahre. Das Land muss seine Industrie wieder aufbauen.“

Das vielleicht auffälligste Symbol für die erzwungene Umgestaltung der deutschen Wirtschaft war die Schließung von zwei Rohrwerken des ehemaligen Flaggschiffs der deutschen Industrie, Mannesmann, im vergangenen Jahr. So schloss das französische Unternehmen Vallourec im September 2023 sein ältestes Werk in Düsseldorf, in dem seit 1899 nahtlose Rohre hergestellt wurden. Das Werk hat zwei Weltkriege überstanden, war aber nicht in der Lage, die Auswirkungen der Energiekrise zu überstehen.

der-niedergang-einer-industriellen-supermacht-was-kommt-als-naechstes

Vallourec ist einer der weltweit führenden Hersteller von nahtlosen Stahlrohren für die Öl- und Gasförderung. Die Werke wurden von den Franzosen im Rahmen eines Asset-Verkaufs nach dem Zusammenbruch von Mannesmann 2000 übernommen. Mannesmann-Rohre waren das Herzstück des Gasleitungsgeschäfts des Jahrhunderts zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der UdSSR.

Die deutsche Wirtschaft tritt in eine neue Ära ein – eine Ära ohne Pipelinegas und ohne Rohrproduktion.

Mächtiger Aufstieg und kometenhafter Absturz

Was ist mit Deutschland passiert? Warum befindet sich das Land, das viele Jahre lang als Vorbild für die ganze Welt diente und der wichtigste Wirtschaftsmotor der europäischen Integration war, plötzlich in einem so beklagenswerten Zustand?

Deutschland hat mehr als jedes andere Land der Welt eine strategische Wette auf die volle Einbeziehung der Globalisierung und der gegenseitigen Abhängigkeit abgeschlossen. Constanze Stelzenmüller, Direktorin des Center on the United States and Europe am Brookings Institute, hat zu diesem Thema Folgendes geschrieben: „Deutschland hat seine Sicherheit an die Vereinigten Staaten, sein Exportwachstum an China und seinen Energiebedarf an Russland abgegeben. Jahrhunderts, das durch den Wettbewerb der Großmächte und die zunehmende Bewaffnung der gegenseitigen Abhängigkeit von Verbündeten und Gegnern gleichermaßen gekennzeichnet ist, schmerzhaft verwundbar.“

Mit dieser Wette konnte Deutschland die lange Stagnation der 1990er Jahre überwinden, die durch die enormen Kosten der Integration des annektierten Ostdeutschlands verursacht worden war. Dann profitierte sie in fantastischer Weise von der EU-Erweiterung und der phänomenalen Industrialisierung Chinas. Und zementierte seinen Status als neue unbestrittene Führungsmacht in Europa während der Schuldenkrise 2010, die dank der Finanzkraft und des politischen Einflusses Berlins überwunden wurde.

Als sich der Trend jedoch umkehrte, war Deutschland auch der Hauptverlierer. Erstens begann China, sich zu einem immer mächtigeren, einflussreicheren und härteren Konkurrenten zu entwickeln. Donald Trump untergrub dann das Vertrauen in die Sicherheit der transatlantischen Solidarität. Schließlich hat der Krieg in der Ukraine auch eine wichtige Energieverbindung mit Russland zerstört.

„Wir sind nicht in der besten Verfassung, weil unsere strukturellen Defizite durch niedrige Zinssätze, die Nachfrage auf dem Weltmarkt und Energieimporte gedeckt wurden. Jetzt, da dieser Ausgleich nicht mehr zur Verfügung steht, müssen wir uns auf unsere strukturellen Probleme konzentrieren“, sagte Bundesfinanzminister Christian Lindner kürzlich.

Ein neues Hartz für eine neue Ära

Deutschland hat sich schnell und brillant an das angepasst, was politische Analysten den unipolaren Moment nennen. In den späten Neunzigern und frühen Zwanzigern schien es eine langfristige Win-Win-Wette zu sein. Doch die neue Welt erwies sich als kurzlebig.

In den frühen 2000er Jahren wurde beschlossen, die Vorteile des Potenzials der deutschen Industrie zu maximieren. Zu diesem Zweck wurde eine große sozioökonomische Reform, Hartz I-IV (2005), durchgeführt. Sie ist nach ihrem Ideologen Peter Hartz benannt, einem ehemaligen Spitzenmanager von Volkswagen, der mit Bundeskanzler Gerhard Schröder befreundet war, als dieser Ministerpräsident von Niedersachsen war – der Hauptsitz und das Hauptwerk von VW befinden sich in Wolfsburg in diesem Bundesland.

der-niedergang-einer-industriellen-supermacht-was-kommt-als-naechstes
Tausende Deutsche protestierten 2004 gegen die Hartz-IV-Arbeits- und Sozialreform. Foto: Peter Endig / EPA.

Hartz und Schröder haben Deutschland an die Realitäten einer gemeinsamen europäischen Währung angepasst. Aber ihr Erbe funktioniert nicht unter den neuen Bedingungen, wenn Maschinenbau, Automobilbau, Metallurgie, Chemie und andere Industrien aus Deutschland fliehen - nach China, in die Vereinigten Staaten und nach Mexiko, Polen und Ungarn, Schweden und die Türkei.

Was ist noch übrig? Bleibt noch Deutschland, wo laut einem aktuellen Bericht der Europäischen Kommission nur 19 % der Haushalte über Glasfaserkabel an das Hochgeschwindigkeitsinternet angeschlossen sind – im Vergleich zu einem EU-Durchschnitt von 56 %.

Deutschland braucht jetzt neue Führungskräfte mit einer eigenen Vision für die wirtschaftliche Zukunft des Landes. Doch wer wird diese Führungsrolle übernehmen?

Wenn man ein wenig phantasiert, könnten solche Führungspersönlichkeiten um Mannesmann herum entstanden sein, das in den neunziger Jahren aggressiv in die Telekommunikation, den Internethandel und die mobile Kommunikation eingestiegen ist und das „Nokia aus Deutschland“ hätte werden können, angepasst an die deutsche Größe und Fähigkeiten. 2000 wurde Mannesmann infolge einer feindlichen Übernahme durch das britische Unternehmen Vodafone zerschlagen. Und im vergangenen Jahr wurde auch sein einstiger Stolz, das Rohrwerk in Düsseldorf, geschlossen.

Deutschland befindet sich heute in einer der schwierigsten Phasen seiner Geschichte. Zur Energiekrise und der kollabierenden Deindustrialisierung kommen die Krise des traditionellen Parteiensystems und der Aufstieg der Rechten hinzu. Berlin muss aus seiner politischen Lähmung ausbrechen und sich mit folgenden Themen befassen: Erneuerung der sich verschlechternden Infrastruktur, Überalterung der Erwerbsbevölkerung, Änderung der Politik zur Anwerbung von Arbeitskräften aus dem Ausland und damit Änderung der Migrationspolitik, Änderung der Politik zur Anziehung von Investitionen und Abbau von Bürokratie. Schließlich muss auch im Bereich der Bildung etwas getan werden. So schätzt das Ifo-Institut, dass der Rückgang der mathematischen Fähigkeiten der Deutschen die Wirtschaft bis zum Ende des Jahrhunderts rund 14 Billionen Euro kosten wird.

ОК
Im Interesse der Benutzerfreundlichkeit verwendet unsere Internetseite cookies.