Tabubruch im Nahen Osten?

Israel muß sich wegen Kriegsverbrechen in Den Haag rechtfertigen.

In der Breite der Gesellschaft scheint Israel durch sein exzessiv-bellizistisches Reagieren seit dem 7. Oktober 2023 zunehmend die Kontrolle über seine bisher formidabel gepflegte Reputation zu verlieren. Aber womöglich wird Israel auch auf hochoffizieller Ebene nicht mehr länger der Freifahrtschein für seine Palästinenserpolitik erteilt. Erstmals muß es sich vor dem Internationalen Gerichtshof verantworten.

Am 29. Dezember vergangenen Jahres stellte Südafrika am IGH in Den Haag einen Antrag wegen des mutmaßlichen Verstoßes gegen die Völkermord-Konvention gegen Israel. Besagter Antrag wurde am Tag des mündlichen Vortrags, dem 11. Januar, vom deutschen Vizekanzler Robert Habeck (Bündnis 90/Die Grünen) übrigens dezidiert abgelehnt. Die Bundesregierung hat nach den Anhörungen sogar kategorisch erklärt, in einer Hauptverhandlung als Drittpartei für Israel sprechen zu wollen. Außenministerin Annalena Baerbock hatte am 10. Januar bei einem Besuch im Libanon gesagt, sie sehe in Israels militärischem Vorgehen in Gaza keine Absicht zum Völkermord.

Am 26. Januar entschied das Gericht dennoch, die südafrikanische Klage zu akzeptieren und vorsorgliche Maßnahmen zu erlassen, denen zufolge die israelische Regierung aufgefordert ist, einen Genozid zu verhindern und humanitäre Hilfe zuzulassen. Darüber hinaus hat das Gericht Israel auferlegt, bezüglich seiner militärischen Operationen hinsichtlich potenzieller Verletzung der Genozid-Konvention einen monatlichen Bericht an den Gerichtshof abzugeben.

Israel ist allerdings kein Vertragsstaat, erkennt daher unter Umständen den Internationalen Gerichtshof nicht als Organ, das über etwaige Streitigkeiten entscheidet, an. Die Vertragsstaaten, wie z. B. auch Deutschland, sind gemäß der in Rede stehenden Genozid-Konvention nicht nur zur Verhinderung eines Völkermords verpflichtet, sondern darüber hinaus, jegliche Handlungen zu unterlassen, die einen solchen begünstigen oder unterstützen könnten. Derartige Handlungen müssen nicht erst Kampfhandlungen darstellen, darunter lassen sich auch Waffenlieferungen oder anderweitige Unterstützungsmaßnahmen, wie beispielsweise finanzielle Zuwendungen subsumieren.

Dies sollte die Bundesregierung in Betracht ziehen, ehe sie Position als juristisch fragwürdige Drittperson beziehen will oder pauschal alle Deutschen mit Israel zwangssolidarisiert. Andernfalls könnte die Regierung, die Israel zu seiner „Staatsraison“ erhöht hat, schnell ihre Glaubwürdigkeit in Sachen großmäuliger Völkerrechtsrhetorik verlieren. Doch auch die Richter entschieden mit 15 zu 2 Stimmen noch nicht, Israel zum gänzlichen Ende des Militäreinsatzes im Gazastreifen zu verpflichten.

Die Uganderin Julia Sebutinde stimmte als einzige der 17 Richter des Internationalen Gerichtshof bezüglich aller Antragspunkte im Sinne Israels ab, wobei sich Ugandas Regierung umgehend von dieser Haltung distanzierte, und dies, obwohl Uganda aufgrund zahlreicher Militärkooperation als israelfreundlich gilt. Dies hielt es nicht davon ab, sich bei der Klage hinter die Position Südafrikas zu stellen.

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Stimmte für Israel: Julia Sebutinde (* 28. Februar 1954 in Entebbe) ist eine ugandische Juristin. Sie fungierte von 2005 bis 2011 als Richterin am Sondergerichtshof für Sierra Leone und leitete während dieser Zeit unter anderem das Verfahren gegen den ehemaligen liberianischen Präsidenten Charles Taylor. Seit Februar 2012 ist sie Richterin am Internationalen Gerichtshof. 2024 wurde sie zur Vizepräsidentin des Internationalen Gerichtshofs gewählt.+++

Brasilien und Kolumbien äußerten ebenso ihre Unterstützung für Südafrikas Klage. Auch Chile wird die Situation in Palästina bei der Anklagebehörde in Den Haag vortragen, mit dem Ziel einer Untersuchung der in den besetzten Gebieten begangenen internationalen Verbrechen, wie die ständige Vertreterin Chiles bei den Vereinten Nationen (UN), Paula Narváez, Mitte Januar bekanntgab.

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Sprach sich gegen Israel aus: Die Sozialistin Paula Verónica Narváez Ojeda (* 22. Mai 1972 in Osorno) ist seit 2022 die Ständige Vertreterin Chiles vor den Vereinten Nationen.

Um sicherzustellen, daß Israel die Vorentscheidung des Internationalen Gerichtshofs auch in die Tat umsetzt, wurde seitens Algeriens eine Sitzung des UN-Sicherheitsrates einberufen. Der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs, Khan, hat sowohl Israel als auch die Hamas zur Einhaltung des Völkerrechts aufgefordert, äußerte aber explizit seinen Unmut hinsichtlich zunehmender Angriffe bewaffneter israelischer Siedler auf palästinensische Bürger auch im Westjordanland. Der Strafgerichtshof ermittelt bereits seit 2021 gegen beide Konfliktparteien, Hamas und Israel. Im Gegensatz zu Israel sind die Palästinensergebiete seit 2015 Vertragsstaat des Gerichts, das 2021 seine Zuständigkeit für die seit 1967 besetzten Gebiete, wie das Westjordanland und den Gazastreifen, bestätigte. Israel akzeptiert dies jedoch nicht, weil es Palästina die Staatlichkeit abspricht.

Die Katastrophe im Gaza nimmt apokalyptische Ausmaße an. Mehr als 26.000 Tote und mehr als 60.000 Verletzte, wobei etwa 70 Prozent der Opfer Frauen und Kinder sind, rütteln die Menschen auf, und lassen Israel langsam die Lufthoheit im Kampf um die Geneigtheit der öffentlichen Meinung verlieren. Das Freiluftgefängnis Gaza wurde zum Kinder-Friedhof. Die hygienischen Bedingungen sind erbärmlich: eine Toilette auf 700 Menschen, eine Dusche auf 7000 Menschen, und nur 1,5 bis 2 Liter Wasser täglich pro Kopf für Trinken, Kochen, Waschen. Zum Vergleich: Der internationale Mindeststandard liegt bei 15 Litern, die kritische Schwelle für das schiere Überleben bei wenigstens 3 Litern. Die Ernährungslage ist nicht besser.

Drohende oder bereits akute Hungersnöte – gemäß Stufe 4 und 5 der Integrated Food Security Phase Classification (IPC) – verlangen besonders schnelles Handeln und akute Hilfe durch die internationale Gemeinschaft. 25 Prozent der Gaza-Bevölkerung fallen unter die Kategorie IPC-5 und 50 Prozent unter die Kategorie IPC-4. Der Rest kommt nicht über die Krisenklassifizierung IPC-3 hinaus. Das Krankenhaussystem ist mittlerweile nahezu völlig zusammengebrochen. Jedoch benötigt jede Vierte der zwischen 100 bis 135 täglich gebärenden Frauen lebensrettende medizinische Versorgung.

Ungeachtet all dessen bleibt natürlich die Frage, inwieweit ein Urteil des internationalen Gerichtshofs nicht nur geduldiges Papier ist, und ggf. auch in der Praxis Wirksamkeit zeigt. Schließlich sind die Entscheidungen dieses Gerichts nur durch entsprechende Beschlüsse des Sicherheitsrats oder der UN-Vollversammlung durchsetzbar. Im Sicherheitsrat verfügen die USA als Israels engster Verbündeter allerdings über ein Veto-Recht. Über selbiges zogen sich die USA seinerzeit auch in eigener Sache aus der Affaire, als Washington bezüglich seiner Unterstützung der Contras eine Klage Nicaraguas verlor.

Der internationale Druck nimmt jedoch zu, und Ende Januar verhandelten in Paris USA, Israel, Ägypten und Katar über ein Abkommen. Saudi-Arabien, ebenfalls langjähriger Verbündeter der USA im Nahen Osten, ließ in Richtung Washington wissen, daß ein Palästinenserstaat Voraussetzung für eine Aufnahme diplomatischer Beziehungen des Königreichs zu Israel sei. Das saudi-arabische Außenministerium erklärte erst Anfang Februar: „Es wird keine diplomatischen Beziehungen mit Israel geben, bevor ein Palästinenserstaat in den Grenzen von 1967 mit Ost-Jerusalem als Hauptstadt anerkannt wurde.“ Das Thema bleibt weiterhin spannend – und leider auch blutig.

Tiltefoto: Die Zerstörungen im Gazastreifen sind so weitgehend, daß von einem kompletten Neuaufbau ausgegangen werden muß.

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