Das Diktum des späteren US-Senators Hiram Johnson, daß das erste Opfer des Krieges die Wahrheit sei, fiel bereits 1914. Der Umstand, daß in diesem Satz mehr als nur ein Kern Wahrheit steckt, macht Bewertungen und erst recht Prognosen bezüglich militärischer Vorgänge so schwierig.
Doch letztendlich wird auf dem Schlachtfeld das geschehen, was die politische Führung vorgibt, und hier wird es interessant, wenn sich zwischen der offiziellen Phraseologie der Regierungen, mit der die breite Masse berieselt wird, und den kaum wahrgenommenen, aber einflußreichen Denkfabriken, auf deren Expertisen sich erfahrungsgemäß die Regierungen verläßt, eine zunehmende Kluft auftut. Exakt dies ist seit einiger Zeit in den USA zu beobachten, und zwar gleich bezüglich drei renommierter Institutionen.
Die Diskrepanz begann mit einer Publikation des US-Think Tanks RAND Corporation mit dem Titel „Avoiding a Long War – U.S. Policy and the Trajectory of the Russia-Ukraine Conflict“ im Januar dieses Jahres, die bereits als Empfehlung für einen Rückzug aus dem „Ukraine-Abenteuer“ gelesen werden konnte.
„Da ein absoluter Sieg höchst unwahrscheinlich ist, wird der Krieg zwischen Rußland und der Ukraine wahrscheinlich irgendwann auf dem Verhandlungswege beendet werden“, war darin auf Seite 14 zu lesen. Dies weicht durchaus deutlich von derjenigen Rhetorik ab, die man Präsident Biden ins Manuskript schreibt. Auch die folgenden beiden Sätze auf Seite 25 klingen anders als die üblichen Durchhalteparolen: „Obwohl die territoriale Kontrolle für die Ukraine von großer Bedeutung ist, stellt sie für die Vereinigten Staaten nicht die wichtigste Dimension der Zukunft des Krieges dar. Wir kommen zu dem Schluß, daß neben der Abwendung einer möglichen Eskalation zu einem Krieg zwischen Rußland und der NATO oder dem Einsatz russischer Atomwaffen auch die Vermeidung eines langen Krieges für die Vereinigten Staaten eine höhere Priorität hat als die Ermöglichung einer wesentlich stärkeren territorialen Kontrolle durch die Ukraine.“
Im selben Monat meldete sich zudem das einflußreiche Center for Strategic and International Studies (CSIS) mit einer Analyse zu Wort, die sich nicht ganz mit der Ankündigungsrhetorik nicht enden wollender Waffenlieferungen an die Ukraine verträgt. In besagter Analyse, die mit „Empty bins in a wartime environment – The Challenge to the U.S. Defense Industrial Base“ überschrieben ist, wird davor gewarnt, daß den USA im Falle einer militärischen Konfrontation mit China um Taiwan in weniger als einer Woche die präzisionsgelenkte Langstreckenmunition ausgehen würde, und zwar nicht zuletzt aufgrund der Lieferungen von Waffensystemen für den Kampf in der Ukraine.
Das Center for Strategic and International Studies (CSIS; dt., Zentrum für Strategische und Internationale Studien) ist eine nach seiner Selbstdarstellung parteipolitisch unabhängige und gemeinnützige Stiftung und Denkfabrik in Washington, D.C., mit dem Fokus auf die Außenpolitik der Vereinigten Staaten. Nach Recherchen der „New York Times“ (Ausgabe vom 7. August 2016) leistet das CSIS unter anderem Lobby-Arbeit für die US-Waffenindustrie. Im Bild: Das CSIS-Gebäude in der Nähe des Scott Circle (Kreisverkehr) in Washington, D.C.
Bereits Ende 2022 fiel der US-Generalstabschef Mark Milley rhetorisch aus der Reihe, als er wörtlich ausführte: „Die Wahrscheinlichkeit eines ukrainischen militärischen Sieges – definiert als der Rauswurf der Russen aus der gesamten Ukraine, einschließlich der von ihnen beanspruchten Krim – ist militärisch gesehen in naher Zukunft nicht sehr hoch.“
Doch richtig interessant ist ein langer Artikel, der am 13. April in Foreign Affairs erschien, und zwar von keinen geringeren Autoren als Richard Nathan Haass, einem US-amerikanischen Diplomaten sowie seit Juli 2003 Präsident des Council on Foreign Relations, und Professor Charles A. Kupchan, Professor für internationale Beziehungen an der Georgetown University in Washington, D.C. und früherem Direktor für europäische Angelegenheiten im Nationalen Sicherheitsrat der Vereinigten Staaten. Kupchan ist zudem Senior Fellow des Council on Foreign Relations. (Siehe hierzu auch diesen Artikel!)
In dem ellenlangen Aufsatz finden sich neben zahlreichen pflichtschuldig die Solidarität mit der Ukraine beschwörenden Wiederholungen bekannter Unterstützungsbekenntnisse einige überraschende Kernaussagen, die von Otto-Normal-Verbraucher in der Öffentlichkeit geäußert, unmittelbar den mainstream-konditionierten Ostrakismos-Reflex auslösen würden.
Der Council on Foreign Relations (CFR; deutsch Rat für auswärtige Beziehungen) ist eine private US-amerikanische Denkfabrik mit Fokus auf außenpolitische Themen mit Sitzen in New York City und Washington. Die Gesellschaft wurde 1921 in New York von Edward M. House in Zusammenarbeit mit den Bankiers Paul M. Warburg und Otto Hermann Kahn, Amerikas seinerzeit einflußreichstem Journalisten, Walter Lippmann, sowie New Yorker Unternehmern, Bankiers und hochrangigen Politikern gegründet. Im Bild: Sitz des Council on Foreign Relations, im ehemaligen Harold Pratt House in New York.
So schreiben die beiden Koryphäen: „Die zweite Säule der westlichen Strategie sollte darin bestehen, noch in diesem Jahr einen Plan für die Vermittlung eines Waffenstillstands und eines anschließenden Friedensprozesses zur dauerhaften Beendigung des Konflikts vorzulegen.“ Sie stellen nicht nur weiter fest, daß – selbst wenn der Westen seine militärische Unterstützung aufstockte –, die Ukraine die russischen Streitkräfte bei weitem nicht besiegen können würde, da ihr die Soldaten und die Munition ausgingen, und ihre Wirtschaft weiter verfiele, sondern schlußfolgern überdies: „Selbst aus ukrainischer Sicht wäre es unklug, einen vollständigen militärischen Sieg, der sich als Pyrrhussieg erweisen könnte, weiter hartnäckig zu verfolgen […] Die Ukraine sollte nicht riskieren, sich selbst zu zerstören, um Ziele zu verfolgen, die wahrscheinlich unerreichbar sind.“
Der Krieg untergrübe die militärische Bereitschaft des Westens und dezimiere seine Waffenbestände; die Verteidigungsindustrie könne mit den Ausgaben der Ukraine für Ausrüstung und Munition nicht Schritt halten. Die NATO-Staaten könnten die Möglichkeit direkter Feindseligkeiten mit Rußland nicht ausschließen, und die Vereinigten Staaten müßten sich auf mögliche Militäraktionen in Asien und im Nahen Osten vorbereiten, heißt es in dem Artikel unverblümt. Daher müßten angesichts des wahrscheinlichen Verlaufs des Krieges die Vereinigten Staaten und ihre Partner jetzt mit der Formulierung eines diplomatischen Endspiels beginnen.
Noch während die NATO-Mitglieder ihre militärische Unterstützung für die bevorstehende Offensive der Ukraine aufstocken, sollte Washington mit seinen europäischen Verbündeten und mit Kiew Konsultationen über eine diplomatische Initiative aufnehmen, die im Laufe des Jahres gestartet werden sollten. „Über ein Jahr lang hat der Westen der Ukraine erlaubt, den Erfolg zu definieren und die Kriegsziele des Westens festzulegen. Diese Politik, unabhängig davon, ob sie zu Beginn des Krieges sinnvoll war, hat sich nun erledigt. Sie ist unklug, denn die Ziele der Ukraine geraten in Konflikt mit anderen westlichen Interessen“, schreiben die beiden Spitzendiplomaten des renommierten US-Think Tanks CFR.
Vielleicht darf man diese Abweichungen der außenpolitischen Denkfabriken vom offiziellen Narrativ dahingehend deuten, daß innerhalb außenpolitisch einflußreicher Kreise in den USA langsam erkannt wird, daß die westliche Kriegsbegeisterung mit Blick auf den Ukraine/Rußland-Konflikt vielleicht doch nicht der Weisheit letzter Schluß ist.
Titelphoto: Die RAND Corporation (englisch: research and development; dt., Forschung und Entwicklung) ist eine Denkfabrik in den USA, die nach Ende des Zweiten Weltkrieges gegründet wurde, um die Streitkräfte der USA zu beraten. Zu den von RAND bearbeiteten Themen gehörten in den letzten Jahren unter anderem Strategien zur Destabilisierung Rußlands und Überlegungen zum Krieg mit China. Im Bild das RAND-Hauptquartier in Santa Monica / Kalifornien.