Um das großalbanische Vorhaben voranzutreiben, erwiesen sich die jeweiligen Machthaber als äußerst flexibel – und in der Wahl ihrer Mittel nicht gerade wählerisch.
Am 28. Dezember 1996 verfaßte das Auswärtige Amt der Bundesrepublik Deutschland ein an das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht adressiertes Schreiben. Darin heißt es: „Nach Erkenntnis des Auswärtigen Amts sind die Maßnahmen der Sicherheitskräfte (der serbischen – d. Verf.) in erster Linie auf die Bekämpfung der UCK gerichtet, die unter Einsatz terroristischer Mittel für die Unabhängigkeit des Kosovo, nach Angaben einiger ihrer Sprecher sogar für die Schaffung eines ,Groß-Albanien‘ kämpft.“
Kämpfer der UCK. Die UÇK [dt., „Befreiungsarmee des Kosovo“) war eine albanische paramilitärische ultra-nationalistische Organisation, die für die Unabhängigkeit des Kosovo kämpfte. Sie entstand 1994, öffentlich trat sie erstmals 1996 in Erscheinung. Mitbegründer und Anführer war bis zu seinem Tod im Jahre 1998 Adem Jashari, danach bis zur Auflösung der UÇK im Jahre 1999 Hashim Thaçi.
Rund 23 Jahre später beschlossen Albanien und das Kosovo die Bildung einer Zollunion. Dort sowie in Nordmazedonien, wo die vor allem in der Westhälfte und im Norden ansässigen Albaner rund ein Viertel der Gesamtbevölkerung ausmachen, ist die rote Fahne mit dem schwarzen Doppeladler immer häufiger zu sehen. Der alte Traum, sämtliche Gebiete, in denen Albaner wohnen, unter einem Dach zu vereinen, lebt fort, ja er ist vielleicht lebendiger denn je.
Dabei spielt ein zwiegespaltenes Verhältnis zum Westen – hier in Gestalt der EU – eine gewichtige Rolle. Zum einen wenden sich Kräfte wie die „Vetëvendosje!“ (dt., „Selbstbestimmung“) – bei den Parlamentswahlen 2019 mit 26,3 Prozent stärkste politische Kraft im Kosovo – gegen die Bevormundung durch den Westen und fordern ein Kosovo ohne internationale Kontrolle. Den etablierten Parteien PDK und LDK wird Taktiererei gegenüber den internationalen Mächten sowie Selbstbereicherung an Aufbaugeldern vorgeworfen. Zum anderen strebt auch jene Partei einen Beitritt zu EU und NATO an. Boris Kálnoky bewertete die großalbanische Rhetorik 2017 und 2019 in Beiträgen für die Tageszeitung Welt auch als „ein Mittel, Druck auf die Europäische Union auszuüben: Nehmt uns endlich auf, sonst gibt es Probleme, heißt das im Klartext.“
Ethnische Tatsachen
Zwei Aspekte sind auf jeden Fall in Stein gemeißelt: Zum einen verfügt das Kosovo über eine exponierte geostrategische Lage. So verbindet das Amselfeld die pelagonischen Becken – eine Region auf der Balkan-Halbinsel im Süden Nordmazedoniens und im Norden Griechenlands – mit den Durchbruchstälern Serbiens. Als Hauptverkehrsachse zwischen der Ägäis und dem Inneren des Westbalkans und Serbiens kommt Kosovo Polje eine bedeutende regionale Verkehrsposition zu. Zum zweiten wurden im Kosovo in den vergangenen Jahrzehnten demographische Fakten geschaffen, und zwar solche ethnischer Art. Wie der kroatische Physiologe und Autor Hrvoje Lorkovic (1930-2018) 1999 in einem Beitrag für die Zeitschrift Signal feststellte, hatte sich die albanische Bevölkerung des Kosovo seit den vierziger Jahren bis zur Jahrtausendwende nahezu vervierfacht.
Die Schlacht auf dem Amselfeld am 15. Juni 1389 unweit Priština am Flußlauf des Lab im heutigen Kosovo zwischen einem serbischen Koalitionsheer unter der Führung des Fürsten Lazar Hrebeljanović sowie Vuk Brankovićs und einer Armee des mit Lazar verbündeten bosnischen Königs Tvrtko I. Gegen das osmanische Heer unter dem Sultan Murad I. und dessen Söhnen Bayezid I. und Yakub endete ohne eindeutigen Sieger. Im Ergebnis war aber der Widerstand der serbischen Fürsten gegen die osmanische Expansion auf dem Balkan in den nachfolgenden Jahren entscheidend geschwächt. – Russische Miniatur aus der Illustrierten Chronik Iwans IV. ( ), 1568–1576.
„Daß die hohe Reproduktionsrate der Albaner Gefahr für die Serben birgt, ist verständlich, wenn die rasch steigende Zahl junger (und kampffähiger) Männer, wie junger (und für die Mutterschaft bereiter) Frauen berücksichtigt wird“, folgerte Lorkovic. Dieser Tatbestand ist einerseits nicht von der Hand zu weisen, verstellt aber gleichzeitig den Blick auf einen weiteren Umstand: die Austreibung der serbischen Bevölkerung, die ihren Anfang bereits im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts genommen hat. So wurden zwischen 1876 und 1912 aus Altserbien, seinerzeit Kosovo Vilayet – eine türkische Verwaltungseinheit erster Ordnung, vergleichabr etwa einer Provinz – genannt, etwa 150.000 orthodoxe Serben vertrieben. Vom Ursprung her betrachtet, bilden Kosovo und Metohija das serbische Kernland, wovon 1400 christliche Klöster und Kirchen zeugen – „mehr als irgendwo sonst im Serbenlande“, wie Jovan M. Tschanak 1999 in einem Beitrag für die Zeitschrift Sleipnir (2/99) feststellte. Im 18. Jahrhundert war die Region von orthodoxen Serben besiedelt, ehe die albanischen Schäfer aus den Bergen in die fruchtbaren Ebenen kamen.
Fast die Hälfte der Bevölkerung des Landes ist unter 18 Jahre alt (2006). Im Bild Mädchen in traditioneller albanischer Tracht anläßlich des Kindertages am 1. Juni 2008.
Von 1941 bis 1945, als eine von Italien und Deutschland kontrollierte Marionetten-Regierung unter Mustafa Kruja Albanien beherrschte und ein Groß-Albanien quasi bestand, verübten Kosovo-Albaner schwerste Verbrechen an der serbischen Bevölkerung. Das US-Office of Strategic Services konstatierte, daß dort im Zeitraum von April 1941 bis August 1942 etwa 10.000 Serben umgebracht worden seien. Zudem wurden Priester und Mönche der Serbisch-Orthodoxen Kirche ermordet. Hermann Neubacher, 1938 und 1939 Bürgermeister von Wien und bis 1943 Beauftragter des Deutschen Reiches für Südosteuropa, stellte – schon resignierend – fest: „Die Skipetaren trachten danach, so viele Serben wie möglich aus ihrer Heimat zu vertreiben. Dabei lassen sich die Machthaber vor Ort Gold und Wertsachen aushändigen, als ,Geschenk‘ für die Erlaubnis, die Heimat verlassen zu dürfen. Als sich General Neditz bei mir darüber beschwerte, befahl ich der albanischen Regierung, dies zu unterlassen. Leider blieb mein Befehl ohne Wirkung, und so verlangte ich, von meinem Posten entbunden zu werden.“
Mustafa Kruja (* 15. März 1887 in Kruja, Albanien, als Mustafa Merlika; † 27. Dezember 1958 in Niagara Falls, New York, USA) war war von 1941 bis 1943 Ministerpräsident der Marionettenregierung des vom faschistischen Italien besetzten Albaniens.
Starkes Sendungsbewußtsein
Bereits die 1878 in Prizren gegründete „Albanische Liga“ war von einem starken Sendungsbewußtsein getragen. Die Konzeption eines Groß-Albanien sah Raum für andere Ethnien nicht vor. Dabei stellten Albaner in den damaligen Vilayets Bitola, Janina, Kosovo und Skutari insgesamt nur 44 Prozent der Bevölkerung, wobei sie sich nur in Janina und Skutari in der Mehrheit befanden. Die Statuten der Liga, die sich als Dachverband der (muselmanischen) Albaner betrachtete, deuten zudem auf eine streng-islamische Ausrichtung hin. So glich das Verlassen der Liga laut Artikel 16 einem Bruch mit dem Islam.
Damit ging für die albanische Bevölkerung eine bevorzugte Stellung einher: Galt doch im Osmanischen Reich die Praxis, Serben, Bulgaren und Griechen – allesamt christlich orientiert – als bestenfalls zweitrangig zu betrachten. Sofern diese aber zum Islam konvertierten, wurden sie in jeder Beziehung Albaner. Erst recht feierte die Zwangs-Assimilierung nach der ersten, 1912 erfolgten Staatsgründung fröhliche Urständ.
Bei einer näheren Beschäftigung mit der albanischen Historie sticht ein weiteres Faktum ins Auge: das Bestreben, ein Groß-Albanien mit Unterstützung der Großmächte zu schaffen. Dabei nutzte das Osmanische Reich die Albaner für die Niederhaltung der christlich-slawischen Befreiungsbewegungen auf dem Balkan. Jovan M. Tschanak kam dabei im Sleipnir-Beitrag zu diesem Schluß: „So stießen zwei gleichermaßen maximalistische Konzepte aufeinander: das eine unterstützt von der Pforte (Osmanisches Reich – d. Verf.) und den Europäern, das andere (das christlich-orthodox geprägte – d. Verf.) getragen vom Russischen Reich“, das sich seit dem frühen 19. Jahrhundert als Schutzmacht Serbiens versteht.
Probleme für Nachbarländer
Um den Traum von einem Groß-Albanien zu verwirklichen, war den Verantwortlichen jedes Mittel recht. So pflegte das Großalbanische Kosovo-Komitee ab 1920 Kontakte zur Kommunistischen Internationale (KI); es folgten intensive Beziehungen zum faschistischen Italien, das die albanische Irredenta als Rammbock einstufte. Graf Ciano, Mussolinis Außenminister, betrachtete die Aufstandsbewegung der Albaner denn auch als, so wörtlich, „Messer im Rücken Jugoslawiens“. Und so wurde diese finanziell massiv unterstützt.
Wie die jüngere Geschichte bewies (und beweist!), zeigen sich die jeweiligen albanischen Führer in Tirana und Pristina als über alle Maßen flexibel, wenn es um die Durchsetzung eigener Ziele geht. Und so begannen sie – die vorher noch Funktionen in der kommunistischen Partei bekleidet hatten – nach dem Ende des Kalten Krieges damit, die demokratische Karte zu spielen und sich dem Westen (in Gestalt der NATO) anzudienen, der die Sezessionsbewegung wiederum als Bollwerk gegen Serbien (und damit Rußland) nutzt.
In der Rückschau betrachtet, können sich die Kosovo-Albaner nicht einmal beschweren. Besaßen sie doch schon in der Tito-Zeit eine Akademie für Kunst und Wissenschaften, eine Universität, auf der in albanischer Sprache gelehrt wurde, darüber hinaus albanisches Radio und Fernsehen. Und nachdem 1974 die jugoslawische Verfassung angenommen worden war, bekam Kosmet (Kosovo und Metohija) nahezu alle Eigenschaften eines souveränen Staates zugestanden.
Der Publizist, Friedensforscher und Geheimdienst-Experte Erich Schmidt-Eenboom wies bereits vor über zwei Jahrzehnten auf die Probleme hin, die ein Groß-Albanien für seine unmittelbaren Nachbarn schaffen würde. So konstatierte er, „daß Griechenland über ein von der Türkei nachhaltig unterstütztes Großalbanien geostrategisch in die Zange genommen wird“. Außerdem beziehe der großalbanische Gedanke auch einen beträchtlichen Teil des nordmazedonischen Staatsgebietes mit ein.
Schon das kleine Kosovo gleicht einem Pulverfaß – ein Groß-Albanien hätte die Züge eines XXL-Munitionsdepots, das einen Flächenbrand auslösen könnte, in den dann die westliche Hemisphäre in Gestalt von NATO und EU auf der einen Seite und Rußland auf der anderen einbezogen sein würden.