Plötzlich waren es die Ukrainer!

Eine neue Wendung im Nord-Stream-Krimi: Bereiten die USA ihren Rückzug vor?

In den Krimi um die Sprengung der Nord Stream-Pipelines im September 2022 kommt Bewegung. Die „Washington Post“ berichtete jüngst, der US-Auslandsgeheimdienst CIA sei Wochen im voraus vom niederländischen Militärgeheimdienst (MIVD) darüber informiert worden, die Ukraine plane einen Anschlag auf die Pipelines. Der US-Dienst habe die Ukrainer daraufhin davor gewarnt, die Pläne umzusetzen.

Laut der „Neuen Zürcher Zeitung“ (NZZ) wird diese Version auch durch neu ans Tageslicht gekommene Dokumente aus dem Fundus der sogenannten „Pentagon Leaks“ erhärtet. Hiernach habe ein ungenannter europäischer Nachrichtendienst durch eine Quelle im ukrainischen Generalstab drei Monate vor den Explosionen von einem ukrainischen Plan erfahren, die Pipeline Nord Stream 1 zu sprengen. Die CIA sei daraufhin informiert worden. Diese habe ihrerseits ihre Kenntnisse mit der Bundesregierung geteilt.

Pikant ist daran, daß letztere nichts von alledem der Öffentlichkeit mitteilte. Dabei ist das Aufklärungsbedürfnis nach wie vor immens. Doch die Bundesregierung hüllt sich unter Hinweis auf das „Staatswohl“ – will in diesem Zusammenhang heißen: das Wohl der Vertreter einer Helotenadministration – in eisernes Schweigen.

Beim niederländischen Sender NOS weiß man angeblich mehr. Dort wurde kürzlich unter Berufung auf den niederländischen Geheimdienst berichtet, daß der Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte, General Saluschnyj, federführend mit der Aktion betraut gewesen sei. Außerdem sollen ein kleines Team von Tauchern und ein Segelboot beteiligt gewesen sein. Die Geschichte mit dem Segelboot, das angeblich von einem ukrainischen oder pro-ukrainischen Team bei einem polnischen Bootsverleih angemietet worden sein soll, kursiert bereits seit Monaten. Die „New York Times“ setzte sie erstmals im März in die Welt, bundesdeutsche Medien steuerten weitere, allerdings wenig glaubwürdige Details bei.

Kiew distanziert sich von alledem hartnackig. Der ukrainische Präsidentenberater Podolyak erklärte seinerzeit zu der Version mit der Segelyacht: „Die Ukraine hat nichts mit der Situation um Nord Stream zu tun.“ Die ukrainischen Geheimdienste seien ausschließlich mit dem Krieg gegen Rußland beschäftigt. „Etwaige Operationen auf dem Grund der Ostsee sind nicht geeignet, die Einsatzlage im Krieg wesentlich zu beeinflussen.“ Man habe nichts mit den Angriffen auf die Pipelines zu tun und verfüge auch nicht über „Informationen über angeblich ,pro-ukrainische Sabotagegruppen'“.

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Der Journalist Mychajlo Mychajlowytsch Podoljak (* 16. Februar 1972 in Lemberg) ist seit April 2020 Podoljak Berater von Andrij Jermak, dem Leiter des Präsidialamts der Ukraine.

Ungeachtet der aktuellen Meldungen steht nach wie vor die Version des US-amerikanischen Investigativjournalisten Seymour Hersh im Raum, der im Februar anhand eigener Recherchen die USA der Urheberschaft an dem Sabotageakt beschuldigte. Beobachter halten es deshalb für plausibel, daß die angebliche Ukraine-Spur lediglich ein Ablenkungsmanöver ist, um die US-Regierung aus der Schußlinie zu bringen.

Nichtsdestotrotz griff zuletzt auch die NZZ die Ukraine-Version erneut auf und berichtete unter Verweis auf einen ehemaligen leitenden Mitarbeiter des deutschen Auslandsgeheimdienstes BND, die deutschen Sicherheitsbehörden ermittelten inzwischen „nahezu ausschließlich“ in Richtung Ukraine. Gleichzeitig, so das Blatt, hielten deutsche Stellen einschließlich führender Politiker erstaunlich hartnäckig daran fest, daß Rußland hinter den Anschlägen stecke.

Die NZZ wirft in diesem Zusammenhang noch eine andere brisante Frage auf: „Ob die Ukraine nun den Anschlag durchgeführt hat oder nicht, bleibt (...) zweifelhaft. Doch eins ist mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit klar: Die deutsche Regierung war über einen Plan, die Pipelines in die Luft zu sprengen, drei Monate vor der Tat informiert. Warum hat sie nicht gehandelt?“ – Ganz einfach: weil sie nicht selbständig handlungsfähig ist.

Das fragen sich inzwischen auch viele Fachleute. Etwa der ehemalige Fregattenkapitän Göran Swistek, der heute als Experte für maritime Sicherheit bei der Stiftung Wissenschaft und Politik tätig ist. „Nachdem die Geheimdienstberichte bekannt wurden, hätte die Regierung mit Kriegsschiffen, aber auch mit Schiffen der Bundespolizei stärkere Präsenz zeigen können“, sagt Swistek. „Zusätzlich hätte die deutsche Regierung politischen Einfluß auf die Ukraine nehmen können.“

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Göran Swistek,vormals als Korvettenkapitän stellvertretender Inspekteur der Deutschen Bundesmarine, wirft der Bundesregierung Versagen vor.

Auch der frühere BND-Mitarbeiter Gerhard Conrad attestiert der Bundesregierung zumindest Untätigkeit – sie habe nach pflichtgemäßer Information des Parlamentarischen Kontrollgremiums wohl auf das Beste gehofft und darauf vertraut, daß die ukrainischen Pläne weiterhin Pläne blieben.

Unter dem Strich ist die Öffentlichkeit so schlau wie zuvor. Mehr als eine unter mehreren denkbaren Theorien ist die Ukraine-Vermutung bislang nicht.

Noch ein weiterer Aspekt der Geschichte ist es jedoch wert, in Betracht gezogen zu werden. Im November 2024, in nur 17 Monaten, sind in den USA die nächsten Präsidentschaftswahlen. Spätestens wenn der Wahlkampf beginnt, kann den lästigen Ukrainekrieg, den weder Kiew noch der Westen gewinnen kann, niemand mehr brauchen. Er wird schon jetzt von Woche zu Woche unpopulärer, in Westeuropa ebenso wie in den USA. Er hat dazu geführt, daß sich die westlichen Militärarsenale in bedrohlichem Maße geleert haben, von den riesigen finanziellen Opfern gar nicht zu reden. Keiner der Kandidaten, die 2024 in den Ring steigen werden, wird mit dieser Hypothek am Bein seinen Wählern gegenübertreten wollen.

Vorstellbar ist mithin ein böses, aber keineswegs unwahrscheinliches Szenario – vor allem, wenn man in Rechnung stellt, daß die USA bisher noch alle ihre Verbündeten zuverlässig im Stich gelassen haben. Der US-Poliik ist zuzutrauen, daß sie, indem der Verdacht der Nord-Stream-Anschläge auf Kiew gelenkt wird, die Ukraine ebenso dezent wie vorausschauend als neuen „Bösewicht“ im Spiel aufbaut. Nicht auszuschließen, daß in nächster Zeit „plötzlich“ noch weitere Flecken am bisher makellosen Bild der Ukraine ans Licht kommen – Kriegsverbrechen, Korruptionsvorwürfe und Ähnliches. Umso leichter wird es in einigen Monaten sein, Selenskyj fallenzulassen, seinen Nachfolgern eine wenig vorteilhafte Verhandlungslösung aufzunötigen und den Krieg zu beenden. Was wir derzeit erleben, sieht aus wie der Beginn der US-amerikanischen „Exit“-Strategie.

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