Das Ende der Freundlichkeiten – Der NATO-Gipfel in Wilna und die neuen deutschen Lieferungszusagen an die Ukraine

Für die Ukraine wird es jetzt allmählich eng

Auf dem NATO-Gipfel in Wilna stand der mögliche NATO-Beitritt der Ukraine im Mittelpunkt. Nur: außer Selenskyj will ihn eigentlich niemand. Den Mut, ihm das zu sagen, fand aber niemand. Deswegen ist das Ergebnis des Gipfels ein peinlicher Kompromiß, mit dem keine Seite zufrieden sein kann.

Das Bündnis einigte sich auf eine Erklärung, in der das weitere Vorgehen festgelegt wird. Dort heißt es: „Die Zukunft der Ukraine ist in der NATO. Wir bekräftigen unsere auf dem Gipfeltreffen 2008 in Bukarest eingegangene Verpflichtung, daß die Ukraine Mitglied der NATO wird (…).“ Zu einer förmlichen „Einladung“ an Kiew werde man der Erklärung zufolge aber erst in der Lage sein, „wenn die Verbündeten sich einig und die Voraussetzungen erfüllt sind“. Insbesondere werden „zusätzliche erforderliche Reformen im Bereich der Demokratie und des Sicherheitssektors“ angemahnt. Schon das ist eigentlich eine glatte Abfuhr für Kiew. Denn von einer ernstzunehmenden Demokratie ist die Ukraine Lichtjahre entfernt.

Einige Länder wie Deutschland und die USA hatten in den Verhandlungen der letzten Monate darauf gedrängt, daß ein NATO-Beitritt Kiews an die Erfüllung der üblichen Bedingungen geknüpft sein müsse. Nach den geltenden Standards des Bündnisses muß zum Beispiel das Militär einer zivilen und demokratischen Kontrolle unterliegen, und ein Mitgliedsanwärter darf keine ungelösten Konflikte mit ins Bündnis bringen. Auch davon kann mit Blick auf die Ukraine keine Rede sein.

Einer der Gründe für die unklare Perspektive, die die NATO Kiew eröffnet, sind – ohne daß dies offiziell von irgendjemandem eingestanden würde – mögliche Reaktionen Moskaus. Der drohende NATO-Beitritt der Ukraine war 2022 einer der zentralen Auslöser für den russischen Einmarsch. An dieser Position des Kreml hat sich nichts geändert. Wenig überraschend, reagierte Moskau auch jetzt mit einer deutlichen Warnung. „Eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine hätte sehr, sehr negative Folgen für die gesamte Sicherheitsarchitektur in Europa, die bereits zur Hälfte zerstört ist“, erklärte Kremlsprecher Dmitri Peskow. Ein Beitritt der Ukraine zum westlichen Militärbündnis wäre eine „absolute Gefahr und Bedrohung für Rußland“ und hätte eine „harte“ Reaktion Moskaus zur Folge.

Irgendwie muß der Eiertanz, der es dem westlichen Bündnis erlaubt, sein Gesicht zu wahren, aber nun weitergehen. Die NATO-Vertreter einigten sich darauf, für die Ukraine eine Ausnahme vom regulären Prozedere zu machen. Statt dem üblichen zweistufigen Beitrittsprozeß soll es im Falle Kiews nur einen einstufigen geben. Außerdem wird die bisherige NATO-Ukraine-Kommission zu einem NATO-Ukraine-Rat aufgewertet, in dem Kiew gleichberechtigt mit den Staats- und Regierungschefs der 31 NATO-Länder vertreten sein soll. Aber das ist reine Kosmetik.

Darüber hinaus will das Bündnis die Ukraine „so lange wie nötig“ weiter unterstützen. „Wir stehen unerschütterlich zu unserem Bekenntnis, die politische und praktische Unterstützung für die Ukraine weiter zu erhöhen, während diese ihre Unabhängigkeit, Souveränität und territoriale Unversehrtheit innerhalb ihrer international anerkannten Grenzen verteidigt“, heißt es wörtlich im Text.

Allen Teilnehmern in Wilna muß klar gewesen sein, daß diese Zusage auf wackeligen Füßen steht. Denn die westliche Unterstützung, ja der Westen selbst ist längst an seine Grenzen gelangt. Die größte Militärallianz der Welt mit dem höchsten Rüstungsetat weltweit pfeift nach eineinhalb Jahren eines militärischen Regionalkonflikts aus dem letzten Loch. Der NATO geht die Munition aus, während das von ihr gelieferte Militärmaterial – egal, ob „Leopard“, „Patriot“ oder „Bradley“ – seine Unzulänglichkeit offenbart. Den modernsten russischen Kampfsystemen wie etwa der „Kinshal“-Hyperschallrakete hat sie nichts entgegenzusetzen. Das westliche Bündnis steht da wie der Kaiser ohne Kleider.

Ganz besonders gilt das für Deutschland. Unmittelbar vor dem Gipfel in Wilna hat die Bundesregierung ein weiteres Rüstungspaket für Kiew auf den Weg gebracht. Der Wert der Lieferung beläuft sich auf knapp 700 Millionen Euro. Laut Mitteilung des Verteidigungsministeriums enthält das Paket insgesamt 31 Positionen, darunter zwei weitere „Patriot“-Systeme, 40 Schützenpanzer „Marder“, 25 kampfwertgesteigerte Panzer „Leopard“ 1 A5, fünf Bergepanzer, 20.000 Artilleriegranaten vom Kaliber 155 mm, 5.000 Nebelgranaten, einige Drohnen sowie ein taktisches Sanitätspaket. Vor allem letzteres werden die Ukrainer angesichts ihrer ebenso erfolglosen wie verlustreichen „Gegenoffensive“ brauchen.

Verteidigungsminister Pistorius (SPD) zeigte sich überzeugt davon, daß mit der neuen Lieferung ein „wichtiger Beitrag zur Stärkung der ukrainischen Durchhaltefähigkeit“ geleistet werde. Er wäre besser beraten, sich um die Durchhaltefähigkeit seiner eigenen Truppe zu kümmern – spätestens seit Oktober letzten Jahres ist bekannt, daß die Bundeswehr im militärischen Ernstfall gerade einmal Munition für zwei Tage hätte. Es zeugt nicht gerade von Weitblick, unter diesen Umständen auch noch die letzten Bestände an Artilleriemunition und funktionsfähigen Panzern voller Enthusiasmus außer Landes zu schaffen.

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Der tschechische Präsident Pavel sieht die Lage für die Ukraine bereits leicht pessimistisch. Petr Pavel (* 1. November 1961 in Plan bei Marienbad) ist seit dem 9. März 2023 der vierte Staatspräsident der Tschechischen Republik. Der General a. D. der Tschechischen Armee war bis 2015 Leiter des Tschechischen Generalstabes, anschließend bis 2018 Vorsitzender des Militärausschusses der NATO.

Für den Westen ist jetzt guter Rat teuer. Er hat – sieht man von der Entfesselung eines für Rußland teuren Abnutzungskrieges und der Zerstörung der Beziehungen zu Rußland ab – keines seiner Ziele erreicht. Aber auch die Kiewer Regierung wird sich nicht mehr lange darüber hinwegtäuschen können, daß ihre westlichen Geldgeber fieberhaft nach einer „Exit“-Strategie suchen. Am deutlichsten ließ dies am Rande des Gipfels der tschechische Präsident Pavel durchblicken. Er deutete in einem Interview an, das „Fenster der Gelegenheit“ für die Ukraine werde sich noch vor Ende des Jahres schließen, nicht nur wegen der winterlichen Bedingungen, sondern auch wegen der bevorstehenden Wahlen in der Ukraine, in Rußland und in den USA. Es sei damit zu rechnen, daß die Verbündeten ihre Militärhilfe nach und nach reduzieren würden.

Für Selenskyj sind das keine guten Aussichten. Mehr als ein warmer Stuhl in Brüssel ist für ihn nicht mehr drin.

Titelphoto: Der ukranische Präsident Selenskyj wirft sich in Wilna in Pose. Der indische Premier Großbritanniens, Rishi Sunak, applaudiert.

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