„Im Dunkeln ist gut munkeln!“
Hans Michael Moscherosch: „Wunderliche und warhafftige
Gesichte Philanders von Sittewald“, 1642
Am 26. September 2022 wurden bis auf einen Nebenstrang aufgrund mehrerer Explosionen die beiden Nord Stream-Pipelines 1 und 2 in der Ostsee zerstört. Seither kursieren verschiedene Vermutungen über diesen Vorgang und die dahinter stehenden Verantwortlichen in der Öffentlichkeit.
Es war allerdings nur eine Frage der Zeit, bis angesichts eines derartigen Vorgangs diverse Geheimdienste Bestandteil des Rätselratens werden. Die anfänglich seitens westlicher Protagonisten angeschobenen Unterstellungen, Rußland selbst würde hinter diesem Sabotage-Akt stecken, treten zunehmend hinter plausibler erscheinende Ermittlungsmuster zurück.
Erstmals wurde – zumindest betreffend einer gewissen Relevanz bezüglich der öffentlichen Wahrnehmung – die stereotype antirussische Propagandablase erschüttert, als der renommierte Investigativ-Journalist Seymour Hersh die USA als Drahtzieher beschuldigte, und dabei sogar US-Präsident Biden beschuldigte. Moskau verdächtige allerdings auch schon Großbritannien, für die Explosionen verantwortlich zu sein. Die neuerlichen Hinweise führen nach Polen und in die Ukraine, wobei die – zumindest – Mitwisserschaft gewisser Geheimdienste nicht weniger von Interesse sein dürfte.
Laut dem „Redaktionsnetzwerk Deutschland“ soll bereits vor einem Jahr der US-Geheimdienst CIA von einem europäischen Nachrichtendienst erfahren haben, daß eine ukrainische Spezialeinheit die Ostseepipelines sabotieren wolle. Bei besagtem Geheimdienst handelte es sich um den niederländischen Militärgeheimdienst MIVD. Die US-amerikanischen Geheimdienste gehen der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ zufolge inzwischen davon aus, daß der Anschlag nicht von einer autonom agierenden Gruppe geplant und durchgeführt wurde. Dahingehend berichtete auch die „New York Times“, welche über eine zumindest lose Anleitung der ukrainischen Regierung räsonierte. Die „Washington Post“, die diese Vermutung ebenfalls aufgriff, beruft sich dabei auf von dem Luftwaffensoldat Jack Teixeira über die Chat-Plattform Discord geleakte Geheimdienstdokumente.
Jack Douglas Teixeira (* Dezember 2001), ein Angehöriger der Air National Guard im Range eines Obergefreiten, wurde im April 2023 verhaftet und beschuldigt, gegen das Spionagegesetz verstoßen zu haben, nachdem er Hunderte von geheimen US-Dokumenten in sozialen Medien veröffentlicht hatte.
Die Saboteure sollen direkt dem Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte, Walerij Saluschnyj, unterstellt gewesen sein. Teixeira wurde im April festgenommen. Im Zusammenhang mit den geheimdienstlichen Verwicklungen der Nord Stream-Sprengungen sticht vor allem die Instrumentalisierung von Briefkasten- bzw. Tarnfirmen ins Auge. Dieses Phänomen ist allerdings keineswegs eine neuartige Erscheinung, weshalb ein diesbezüglicher Rückblick interessant ist.
Beispielsweise sind Verknüpfungen von CIA und Tarnfirmen seit Jahrzehnten eine gängige Praxis. Man erinnere sich nur an die als Iran-Contra-Affäre in die Geschichte eingegangene Operation, als durch die Reagan-Regierung Einnahmen aus geheimen Waffenverkäufen an den Iran, die an Guerilla-Bewegung der Contras in Nicaragua weitergeleitet wurden, um diese gegen die sandinistische Regierung zu unterstützen. Für besagte Geschäfte landete seinerzeit auch kein Regierungsflieger in Teheran, sondern die Maschine eines exil-iranischen „Geschäftsmanns“ namens Farhad Azima aus Missouri, der bezeichnenderweise im Zusammenhang mit dem Skandal der sogenannten Panama-Papers erneut auftauchte – gemeinsam mit zahlreichen weiteren Namen, die im Dunstkreis der Geheimdienste angesiedelt wurden.
Farhad Azima (* 1941), ein in jungen Jahren in die USA emigrierter Perser, ist eng mit den illegalen Tätigkeiten nie abhold gewesenen Machtkreisen Washingtons verbandelt. 1981 gründete Azima Global International Airways, eine Charter- und Frachtfluggesellschaft. Zudem ist er Eigentümer der in Kansas City ansässigen Aviation Leasing Group und HeavyLift International. Azima ist seit vielen Jahren an Waffenlieferungen beteiligt. Die Flugzeuge seiner Firma haben Waffen nach Pakistan geflogen, um Islamisten zu versorgen, die gegen die Sowjets in Afghanistans kämpften; nach Ägypten – und zwar nach dem Camp-David-Abkommen von 1978 und nach Kroatien während des Unabhängigkeitskrieges. Ein Azima-Flugzeug soll im Rahmen der Iran-Contra-Affäre Waffen in den Iran geschmuggelt haben.
US-Geheimdienstleute sollen nicht unmaßgeblich die Dienste der Kanzlei Mossack Fonseca in Panama genutzt haben. Eben derselbe Azima soll bereits in den späten siebziger Jahren der ägyptischen Firma EATSCO bei Waffenlieferungen nach Libyen geholfen haben. Das Brisante daran: Besagte Firma gehörte mehreren ehemaligen CIA-Agenten. Wen wundert es noch, daß Farhad Azima sowohl an Republikaner wie auch Demokraten Geld spendete. Er wurde auch mehrmals vom damaligen Präsidenten Bill Clinton im Weißen Haus empfangen, und nicht zuletzt unterstützte Azima auch den Wahlkampf von Hillary Clinton.
Ein weiteres Beispiel aus jüngerer Zeit ist ein Netzwerk von US-Unternehmen wie z. B. Aero Contractors Limited, Pegasus Technologies oder Tepper Aviation, über das nach der Jahrtausendwende mehr als zwei Dutzend Flugzeuge betrieben wurden, die der CIA gehörten, wie die „New York Times“ damals enthüllte. Diese Machenschaften beschränken sich auch keineswegs auf Schauplätze in Übersee, sondern finden genauso in Europa Anwendung.
Großkonzerne wie UBS, Credit Suisse oder Sunrise vertrauten beispielsweise die Sicherheit ihrer sensiblen Daten der Infoguard AG an. Zumindest so lange, bis Handelsregisterauszüge zu Tage förderten, das die Infoguard AG im Zeitraum von 2002 bis 2018 über komplexe Holdingstrukturen mutmaßlich dem US-amerikanischen Auslandsgeheimdienst CIA gehörte. Oder denken wir nur an die Aktivitäten des polnischen Unternehmens PHU LECHMAR, das im Verdacht des Weiterverkaufs westlicher Militärgüter steht, die auf das Territorium der Ukraine geliefert werden. Womit man wieder in Polen angelangt wäre, um auf die Nord Stream-Sabotage zurückzukommen.
Die mutmaßlich zur Nord Stream-Sprengung verwendete Jacht „Andromeda“ – der Mythus hinter diesem Namen dürfte nicht nur altphilologisch Interessierten zu Denken geben... – wurde von einer Firma aus Polen angemietet, wie das polnische Onlinemagazin „Frontstory“ recherchierte. Besagtes Unternehmen, Feeria Lviv, befindet sich in einem fünfstöckigen Gebäude aus der kommunistischen Ära im Warschauer Stadtteil Powiśle und soll Ukrainern gehören. Ermittler des Bundeskriminalamtes (BKA) sollen schon vor Monaten auf das polnische Unternehmen aufmerksam geworden sein. Angeblich handelt es sich dabei um ein Reisebüro, wobei fraglich ist, wie dieses ganz ohne Werbung, Homepage, ja sogar ohne Telefon wettbewerbsfähig sein kann. Umso erstaunlicher, daß sich die Einnahmen ausgerechnet im Pandemie-Jahr 2020 auf etwa 13 Millionen Zloty verelffachten: Dies entspricht etwa 2,8 Millionen Euro.
Exkursion in die frühe Antike
Gönnen wir uns eine kurze Exkursion in die griechische Mythologie, denn es ist bekannt, daß gewisse Kreise gerne mit mythenbeladenen Begriffen hantieren, um Eingeweihten die Richtung ihrer politischen Intentionen aufzuzeigen.
Die Erzählung von Andromedas Rettung gehört zu den bekanntesten Sagen der griechischen Mythologie. Zu den ältesten antiken Werken über Andromeda zählt die nur in Fragmenten erhaltene Tragödie Andromeda des Euripides aus dem 5. Jahrhundert v. Chr.
Andromeda (dt.‚ „im Gedenken eines Mannes“) ist in der griechischen Mythologie die Tochter des äthiopischen Königs Kepheus und der Kassiopeia. Sie soll für die Hybris ihrer Mutter Kassiopeia büßen, die – je nach Überlieferungsvariante – sich oder ihre Tochter Andromeda für schöner als die Nereiden gehalten hat, die Nymphen des Meeres und Begleiterinnen des Meeresgottes Poseidon. Der erzürnte Poseidon sendet daraufhin das Seeungeheuer Ketos sowie eine Flut. Um das Land von dieser Plage zu befreien, wird Andromeda auf Weisung eines Orakels an einen Felsen am Meer gekettet, um dem Ungeheuer geopfert zu werden.
Nach Euripides fragt Perseus Andromeda, welchen Dank er zu erwarten hat, wenn er sie befreit, woraufhin Andromeda antwortet:
„Nimm mich mit, Fremder, als Dienerin, wenn du willst, oder Gattin oder Sklavin.“
Perseus tötet daraufhin das Ungeheuer Ketos mit dem Schwert, befreit Andromeda und nimmt sie zur Frau.
Mit gar nicht so großem Phantasieaufwand kann man mit der mythischen Figur der Andromeda das stets sich als Opfer ausgebende „heroische“ Polen, aber auch die chauvinistische Ukraine identifizieren. In die Rolle des Perseus schlüpft der unbeugsamen und quasi unbesiegbare Poseidon (eventuell aus New Hampshire stammend...). Und die Rolle des Bösewichtes Poseidon kann getrost Moskau, die aktuelle Hauptstadt des „Reiches des Bösen“ spielen.
Die Jacht „Andromeda“…
und ihr Mythos.
(Gemälde von Arthur Hill, 1876.)
„Nimm mich mit, Fremder, als Dienerin, wenn Du willst, oder Gattin oder Sklavin.“
Euripides: „Fragmente 132“. Übersetzung nach Gustav Adolf Seeck, in: Euripides: „Sämtliche Tragödien und Fragmente“; Band 6, Artemis Verlag, München, 1981, S. 59.+++
Fazit
Objektiv betrachtet dürfte demnach außer Frage stehen, daß eine Sachlage vorliegt, die es nicht länger rechtfertigt, die Ermittlungen in dieser Sache einzig auf Verdächtigungen Rußlands einzuschränken. Nach inoffiziellen Informationen der „Süddeutschen Zeitung“, des Norddeutschen und des Westdeutschen Rundfunks und ihren Partnern – so teilt „Frontstory“ mit – hätten deutsche Ermittler auch die Schiffsbewegungen in der Ostsee untersucht und – man höre und staune – bislang keine Hinweise auf eine Beteiligung russischer Schiffe gefunden. So zumindest das polnische (!) Magazin „Frontstory“ in einer am 1. Juni erfolgten Aktualisierung seines Artikels vom 21. Mai 2023. Die Ukraine ihrerseits hat wiederholt bestritten, daß sie hinter den Nord Stream-Explosionen stecke, konkrete Nachfragen seitens der „Frontstory“-Redaktion wurde deren Angaben zufolge von den ukrainischen Diensten jedoch nicht beantwortet.