Die Warschauer Raupe Nimmersatt

Polens wiederkehrende Forderungen gegenüber Deutschland.

Donald Tusk von der Platforma Obywatelska (Bürgerplattform), einer wirtschaftspolitisch liberalen und EU-freundlichen Partei, ist seit Dezember 2023 polnischer Ministerpräsident. Er  beherrscht vor allem die leisen Töne. Diese sind aber nicht minder klar. Im Februar, während eines Treffens mit Bundeskanzler Olaf Scholz in Berlin, spielte auch die Frage möglicher deutscher Reparationszahlungen an Polen eine Rolle. Im formalen und rechtlichen Sinne sei diese Frage zwar seit vielen Jahren abgeschlossen, so Tusk. „Aber“, fuhr der ehemalige EU-Ratspräsident fort, „Deutschland hat hier noch etwas zu tun.“ Es handele sich um eine Frage der historischen Gerechtigkeit, daß Berlin Rechnungen begleiche: „moralisch, finanziell und materiell“.

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Der Diplom-Historiker Donald Franciszek Tusk (* 22. April 1957 in Danzig) war vom November 2007 bis zum 22. September 2014 als Nachfolger Jarosław Kaczyńskis polnischer Ministerpräsident. Vom 1. Dezember 2014 bis zum 30. November 2019 fungierte der national-liberale Politiker als Präsident des Europäischen Rates. Am 13. Dezember 2023 wurde er wieder Ministerpräsident seines Landes.

Die Neue Zürcher Zeitung analysiert in ihrer Ausgabe vom 13. Februar Tusks Situation: „Weil Tusk in seinen früheren Ämtern als Regierungschef und EU-Ratspräsident ein enges Verhältnis mit Berlin gepflegt hatte, muß er aus innenpolitischen Gründen den Eindruck zu großer Nachgiebigkeit vermeiden. Er kann die Reparationsfrage nicht still beerdigen. Dies wäre allerdings auch in den eigenen Reihen nicht mehrheitsfähig. 2022 stimmte das polnische Unterhaus praktisch geschlossen für eine Resolution, die Deutschland zu Wiedergutmachungen für die Folgen des Zweiten Weltkrieges aufforderte.“

Im September 2022 hatte der Sejm die Bundesregierung aufgefordert, „die politische, historische, rechtliche und finanzielle Verantwortung für alle Folgen zu übernehmen, die Polen und seinen Bürgern durch die Entfesselung des Zweiten Weltkrieges durch das Dritte Reich verursacht wurden“. 418 von 437 Abgeordneten stimmten seinerzeit für die Initiative, darunter auch die Vertreter der Platforma Obywatelska (PO, Bürgerplattform), der Tusk von 2003 bis 2014 vorstand. Auf Antrag eines Parlamentariers wurde das zunächst in die Resolution aufgenommene Wort „Reparationen“ durch „Wiedergutmachung“ ersetzt. Als „Ausgangspunkt“ für den Vorstoß des Sejm diente ein von einer Parlaments-Kommission vorgelegtes dreibändiges Gutachten, das die Kriegsschäden auf 1,3 Billionen Euro bezifferte.

Thema der Ostgebiete

Aus Sicht der Bundesrepublik hingegen ist die Frage zwischenstaatlicher Reparationen für Kriegsschäden im Verhältnis zu Griechenland und Italien, aber auch Polen umfassend und abschließend geregelt. Laut einer am 1. Juni 2023 herausgegebenen Stellungnahme enthalte der Zwei-plus-Vier-Vertrag von 1990 die endgültige Regelung der infolge des Krieges entstandenen rechtlichen Fragen. So heißt es in der Erklärung der Regierung wörtlich: Der Vertrag „hatte erklärtermaßen das Ziel, eine abschließende Regelung in bezug auf Deutschland herbeizuführen, und es wurde deutlich, daß es weitere (friedensvertragliche) Regelungen über rechtliche Fragen im Zusammenhang mit dem ,Zwei-plus-Vier-Vertrag‘ nicht geben werde. Hieraus ergab sich auch, daß die Reparationsfrage nach dem Willen der Vertragspartner nicht mehr geregelt werden sollte.“

Im Hinblick auf Polen gibt es zudem weitere gute Gründe, endlich den Geldhahn fest geschlossen zu halten. Eine gewichtige Rolle spielt dabei das Thema der deutschen Ostgebiete. Wie die Deutsche Welle am 6. Februar 2019 berichtete, verglich die sowjetische Seite nach dem Krieg den Verkehrswert der unter polnische Verwaltung gestellten Ostgebiete mit den an die UdSSR abgetretenen polnischen Ostterritorien. Der Wert der erstgenannten Regionen belief sich demnach auf 9,6 Milliarden Dollar, jener der an die Sowjetunion abgegebenen polnischen Ostgebiete auf lediglich 3,5 Mrd. Dollar. Gestützt wird diese Bewertung durch eine Einschätzung Winston Churchills. Der britische Premierminister war auf der 1943 abgehaltenen Konferenz von Teheran zu dem gleichen Schluß gelangt, dem zufolge der materielle Wert der östlich der Oder-Neiße-Linie gelegenen Gebiete den Wert der an die UdSSR verlorenen polnischen Ostgebiete erheblich übersteige.

Churchill seinerzeit wörtlich: „Der Wert dieses Landes ist viel größer als der der Pripjet-Sümpfe.“ („The value of this land is much greater than the Pripet marshes.“) In diesem Zusammenhang wurde deutscherseits immer wieder darauf verwiesen, daß die Abtretung der deutschen Ostprovinzen an Polen bereits als Reparationsleistung zu werten sei.

Polnische Verzichtserklärungen

Eine gewichtige Rolle spielen in der Diskussion um Reparationen auch die von polnischer Seite abgegebenen Verzichtserklärungen. So bezeichnete Edward Osóbka-Morawski, erster Ministerpräsident Nachkriegspolens, bereits 1947 die polnischen Ansprüche auf Reparationen durch die Übernahme der deutschen Ostgebiete als „erledigt“. DER SPIEGEL berichtete darüber in seiner Ausgabe vom 15. März 1947.

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Im Jahre 1944 bestimmte Stalin den Sozialisten Edward Bolesław Osóbka-Morawski (* 5. Oktober 1909 in Bliżyn; † 9. Januar 1997 in Warschau) von der Polnischen Sozialistischen Partei (PPS) bei der Bildung des Polnischen Komitees für Nationale Befreiung in Moskau (PKWN) zum Vorsitzenden. Gleichzeitig war er für Außenpolitik und Landwirtschaft zuständig. In der Provisorischen Regierung Polens fungierte er ab 1944 als erster Ministerpräsident. Osóbka-Morawski war Gegner der Zwangsvereinigung der PPS mit der Polnischen Arbeiterpartei (PPR) zur Vereinigten polnischen Arbeiterpartei (PZPR) und verlor deswegen 1947 seine Ämter.

Das Handelsblatt, Ausgabe vom 9. August 2023, erwähnt darüber hinaus ein aus dem Jahr 1953 stammendes Dokument, als dessen Urheber Bolesław Bierut angesehen wird. Darin verkündet Bierut den Verzicht auf Reparationsforderungen gegenüber Deutschland ab dem 1. Januar 1954. Die Verlautbarung sei, so das Handelsblatt, lediglich in Zeitungen abgedruckt worden, doch war Bierut andererseits nicht irgendwer: Von 1947 bis 1952 wirkte er als Staatspräsident der Volksrepublik Polen; von Dezember 1948 bis März 1954 war Bierut Vorsitzender und ab März 1954 Erster Sekretär des Zentralkomitees der Polnischen Vereinigten Arbeiter-Partei (PVAP).

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Der Stalinist Bolesław Bierut (* 18. April 1892 in Rury Brigidkowskie; † 12. März 1956 in Moskau) war von 1947 bis 1952 Staatspräsident der Volksrepublik Polen und von 1948 bis 1956 Generalsekretär der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (PZPR). Seine am Vorbild der stalinistischen Sowjetunion orientierte Herrschaft gilt als repressivste Periode in der Nachkriegsgeschichte Polens.

Für die polnische Seite ist die Reparationsfrage dagegen weiter offen, da Polen seinerzeit ein Satellit der UdSSR gewesen sei. Es habe nicht selbständig entscheiden können, sondern mußte auf Druck des „großen Bruders“ handeln. Dagegen erachtet die Bundesrepublik Deutschland die Verzichtserklärung sehr wohl als bindend, da sie seinerzeit öffentlich bekanntgegeben worden ist.

Radio Berlin Brandenburg (RBB) wollte mehr wissen und führte zu Beginn des Jahres 2023 ein Gespräch mit dem an der Universität Breslau lehrenden Historiker Krzysztof Ruchniewicz. Im Zuge des Interviews wurde auch die Frage gestellt, ob es Dokumente gäbe, die den Verzicht der polnischen Seite auf Reparationsleistungen von ganz Deutschland bestätigen. Ruchniewicz erwähnte in diesem Zusammenhang „eine Verzichtsdeklaration von der polnischen Seite. Die Völkerrechtler sind der Meinung, eine solche Deklaration sei gültig und nicht anfechtbar. Auch die späteren polnischen Regierungen haben diese Entscheidung nicht in Frage gestellt, auch nicht nach 1989.“

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Der Historiker Krzysztof Ruchniewicz (* 27. Januar 1967 in Breslau) lehrt als Professor für Zeitgeschichte am Willy-Brandt-Zentrum für Deutschland- und Europastudien der Universität Breslau.

SPD-Politiker: Reparationsfrage juristisch abgeschlossen

Das änderte sich durch Äußerungen aus den Reihen der Prawo i Sprawiedliwość (PiS, Recht und Gerechtigkeit), die Polen von 2005 bis 2007 sowie von 2015 bis Dezember 2023 regierte. Polens Regierung passe nicht in das deutsch-russische Konzept, das auf eine Beherrschung Europas abziele. Die EU könnte zu einem „Vierten Deutschen Reich“ werden, ließ sich etwa Jarosław Kaczyński, PiS-Chef und bis Dezember 2023 stellvertretender Ministerpräsident, im Herbst 2022 vernehmen. Arkadiusz Mularczyk, seit Oktober 2022 Staatssekretär im Außenministerium und Regierungsbeauftragter für die polnischen Reparationsforderungen an Berlin, verfaßte im Mai 2023 an die 736 Mitglieder des Deutschen Bundestages einen Brief, in dem er auf die Schäden verwies, die von den Nationalsozialisten in Polen angerichtet worden seien. Laut Handelsblatt vom 9. August 2023 bestehe das polnische Ziel in der Angelegenheit darin, „mit Deutschland einen langfristigen Dialog zum Thema Reparation zu beginnen“. Das erachte er für nötig, weil die Frage Europa spalte.

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Der chauvinistische Katholik Jarosław Aleksander Kaczyński (* 18. Juni 1949 in Warschau) war als Jurist ehemaliger Aktivist der in Opposition zur kommunistischen Diktatur gegründeten Gewerkschaft „Solidarność“. Als Vorsitzender der konservativen Partei Zentrumsallianz (1990–1998) und der national-konservativen Partei PiS (seit 2003) war er an der Bildung mehrerer polnischer Regierungen beteiligt und von 2006 bis 2007 selbst Ministerpräsident Polens. Von Oktober 2020 bis Juni 2022 sowie vom 21. Juni bis zum 27. November 2023 war er als stellvertretender Ministerpräsident Mitglied im Kabinett Morawiecki II.

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Der Jurist Arkadiusz Mularczyk (* 4. Februar 1971 in Ratibor/Schlesien) ist ein polnischer Politiker. Er war von 2005 bis 2022 Abgeordneter des Sejms. Mularczyk war Inspirator und Herausgeber des 2022 publizierten dreibändigen Gutachtens, mit dem die polnische Regierung unter Mateusz Morawiecki ihre Reparationsforderungen an die Bundesrepublik Deutschland untermauerte. Im Oktober 2022 trat er als Staatssekretär im Außenministerium in die Regierung unter Mateusz Morawiecki ein. Sein Zuständigkeitsbereich wurden die Beziehungen Polens zur Europäischen Union und zur Bundesrepublik Deutschland; auch wurde er Regierungsbeauftragter für die polnischen Reparationsforderungen an die Adresse Berlins.

Der SPD-Abgeordnete Dietmar Nietan, Koordinator der Bundesregierung für die grenznahe Zusammenarbeit zwischen Polen und der BRD, entgegnete Mularczyk, die Reparationsfrage sei juristisch abgeschlossen. Er könne sich lediglich vorstellen, die „Zivilgesellschaft“ beispielsweise durch die Einrichtung eines „Hilfsfonds“ zu unterstützen, erklärte er im September 2022 im Gespräch mit der polnischen Zeitung Gazeta Wyborcza.

Überhaupt hat sich die Bundesrepublik Deutschland gegenüber Polen bislang als spendabler Onkel erwiesen.

  • So erhielten polnische Bürger bis 1991 umgerechnet 225 Millionen Euro an Reparationen.
  • Eine Milliarde ging an polnische Zwangsarbeiter.
  • KZ-Häftlinge hatten in den siebziger Jahren fast eine halbe Milliarde Euro erhalten, wußte DER SPIEGEL am 1. September 2022 zu berichten.
  • Die von der Bundesregierung, vielmehr: vom deutschen Steuerpflichtigen finanzierte Stiftung „Polnisch-Deutsche Aussöhnung“ in Warschau zahlte seit ihrer Gründung im Jahre 1992 zunächst 500 Mio. DM an polnische Bürger aus.
  • Später folgten Zahlungen dieser Stiftung in Höhe von fast zwei Milliarden DM an noch lebende ehemalige Zwangsarbeiter, hieß es am 3. August 2017 bei welt.de.

Freßsucht mit langer Tradition

Die geradezu grenzenlose Freßsucht der polnischen Raupe Nimmersatt hat eine lange Tradition, die bis in die Zeit nach der zwischen 1916 und 1918 erfolgten Wiedergründung des Staates Polen zurückreicht. Dieser gehörte zu den maßgeblichen Profiteuren des Versailler Vertrages, durch den Deutschland umfangreiche Gebiets- und Bevölkerungsverluste erlitt. Es verlor insgesamt rund 62.000 qkm und 5,6 Millionen Einwohner.

Für eine Reihe von Gebieten waren Volksabstimmungen vorgesehen. Die in West- und Ostpreußen am 11. Juli 1920 durchgeführten Plebiszite ergaben deutliche Stimmenmehrheiten zugunsten des Deutschen Reiches. So votierten in den Abstimmungsgebieten Marienwerder und Allenstein 92,8 bzw. 97,9 Prozent der Wähler für den Verbleib bei Deutschland. In Oberschlesien, wo am 20. März 1921 ein Referendum stattfand, wurden rund 60 Prozent der Stimmen für Deutschland abgegeben. Bei richtiger Auslegung selbst des Versailler Vertrages hätte die Provinz ungeteilt bei Deutschland verbleiben müssen.

Die Realität sah allerdings anders aus: Von dem Abstimmungsgebiet wurden rund 30 Prozent des Landes (3720 qkm) und 49 Prozent der Bevölkerung (965.000 Einwohner) der Polnischen Republik überantwortet. Hinzu kam die Grenzziehung, die so gestaltet wurde, daß die durch Bodenschätze wertvollste Region (Ostoberschlesien) vom Deutschen Reich losgerissen wurde. Städte wie Königshütte, Kattowitz oder Tarnowitz – hier hatten die Einwohner zwischen 75 und 85 Prozent ihre Stimme für Deutschland abgegeben – gerieten unter polnische Herrschaft.

Überhaupt war der wirtschaftliche Schaden für das Reich immens, da es sich im Falle Posens und Westpreußen um wichtige Überschußgebiete an land- und forstwirtschaftlichen Erzeugnissen handelte, die nun für die Versorgung ausfielen.

Der Nationaldemokrat und spätere Kultusminister Stanisław Grabski – mütterlicherseits selbst aus der deutschen Familie Mittelstaedt stammend – ließ bereits 1919 erkennen, wohin die Reise für die in Polen lebenden Deutschen gehen sollte: „Das fremde Element wird sich umsehen müssen, ob es nicht anderswo besser aufgehoben ist.“

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Der Ökonom Stanisław Grabski (5. April 1871 – 6. Mai 1949), zunächst Sozialist, dann Nationalist, war 1923 und 1925 bis 1926 Minister für religiöse Überzeugungen und öffentliche Bildung. In dieser Zeit verfolgte er eine chauvinistische, minderheitenfeindliche Polonisierungspolitik. Grabskis Ansatz ging dahin, die nicht-polnische Bevölkerung auf den Status von Bürgern zweiter Klasse zu reduzieren.

Lebten laut der 1921 durchgeführten ersten polnischen Volkszählung auf dem Territorium des Staates Polen etwas über eine Million Deutsche, zählte die deutsche Minderheit laut dem Zensus von 1931 nur noch 741.000 Angehörige. Im Vergleich zu 1921 bedeutete dies einen Rückgang von um die 28 Prozent. Bei diesem Exodus spielten vornehmlich zwei Momente eine Rolle. Zum einen war es der psychologische Aspekt: So fanden sich die Deutschen im Gefolge des Ersten Weltkrieges bzw. des Versailler Diktats in den an Polen verlorenen Gebieten plötzlich als Angehörige einer nationalen Minderheit in einem fremden Staat wieder. Und zum zweiten spielten Boykott-Maßnahmen wie die Entfernung der deutschen Sprache aus der Verwaltung und deutscher Beamter aus dem öffentlichen Dienst im Zusammenhang mit der Abwanderung eine wichtige Rolle, zumal Eingaben von Volksdeutschen nur noch auf Polnisch beantwortet wurden.

Boden unter den Füßen weggezogen

Zudem wurde vielen Deutschen der Boden, und das im wahrsten Wortsinn, förmlich unter den Füßen weggezogen. Dazu eine kurze Rückschau: In den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts hatte die damalige Königlich-Preußische Ansiedlungskommission begonnen, u. a. in Westpreußen von polnischen Grundbesitzern Land anzukaufen, dieses zu parzellieren und an Deutsche zu vergeben. Die Siedler erwarben an diesem Land für einen längeren Zeitraum die Eigentumsrechte. Der abschließende Schritt bestand dabei in der sogenannten „Auflassung“, sprich, der Übertragung des Landes ins Grundbuch. Der Versailler Vertrag von 1919 allerdings übereignete jenes Grundeigentum dem gerade wiederbegründeten polnischen Staat, der daraufhin das Besitzrecht von 26.000 deutschen Siedlern bestritt. In der Folge wurden 12.000 Besitzverhältnisse anerkannt, während 10.000 Siedler sich für die deutsche Staatsbürgerschaft entschieden und das Land verließen. Bei rund einem Fünftel kündigte der polnische Staat das Land zum 1. Dezember 1920, wobei ein Zwangsverwalter eingesetzt wurde.

Der im Mai 1926 vollzogene Machtantritt von Marschall Józef Piłsudski war aus Sicht der im polnischen Staat lebenden Deutschen mit noch fester angezogenen Daumenschrauben verbunden. Nach einem Urteil des polnischen Historikers Albert Stefan Kotowski erfolgte nunmehr der Übergang von einer „planlosen“ zu einer „planmäßigen Entdeutschung“ der westlichen Landesteile Polens. So wurde jetzt das Agrarreformgesetz vom 28. Dezember 1925 auf eine verschärfte Weise gehandhabt.

Jenes Gesetz gab dem polnischen Staat die Möglichkeit, sämtliche Liegenschaften zu konfiszieren, die mehr als 180 Hektar landwirtschaftlich nutzbarer Fläche umfaßten. Den deutschen Grundbesitz traf dies sehr hart, da er zum einen bei den in Frage kommenden Gütern stark vertreten war und zum zweiten im Zuge der Parzellierung in der Regel Polen die Nutznießer waren. In Posen und den an Polen gefallenen Teilen Westpreußens befanden sich 39 Prozent der Fläche, die nach den Leitlinien der Bodenbesitzreform konfisziert werden konnten, in deutschem Besitz (262.000 Hektar). Die erste Liste der zu konfiszierenden Besitzungen umfaßte 1926 10.800 Hektar von deutschen Landbesitzern, aber nur 950 Hektar von sieben polnischen Besitzern.

Dem Deutschen Reich (von den alliierten Mächten durch Reparationen und andere Zwangsabgaben ohnehin ausgepreßt) und den Volksdeutschen im polnischen Machtbereich entstand also schon damals ein immenser wirtschaftlicher Schaden. Ach hierzu wäre eine Art Gegenrechnung von Interesse.

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Józef Klemens Piłsudski (* 5. Dezember 1867 in Zalavas bei Wilna; † 12. Mai 1935 in Warschau) war ein polnischer Politiker und kurzzeitig Staatsoberhaupt nach einem Militärputsch. Im November 1918 wurde Piłsudski polnischer Staatschef. Von 1926 bis zu seinem Tod 1935 regierte er autoritär. Dabei verfolgte er auch das Ziel der Wiederherstellung des sogenannten Großpolens, auch weit über die Grenzen des polnischen Siedlungsgebietes hinaus. Durch diese Politik kam es durch den Versailler Vertrag zur Abtrennung großer Gebiete Ostdeutschlands sowie zum polnischen Überfall auf die Sowjetunion und zum polnisch litauischen Krieg.

Reparationen: Ukraine-Krieg als Polens Geheimwaffe

Die Nachfahren der Grabskis und Piłsudskis beeindrucken solche Fakten natürlich nicht. Zudem wittern sie eine Chance durch die Hintertür: Im November 2022 verabschiedete die UN-Vollversammlung eine (rechtlich allerdings nicht bindende) Resolution, laut der Rußland an die Ukraine Reparationen zahlen soll. Polen wiederum unternimmt vor diesem Hintergrund den Versuch, die ukrainische Reparationsfrage mit den eigenen, an Deutschland gerichteten „Wiedergutmachungs“-Forderungen zu verknüpfen. „Das wäre ein wichtiges Signal an heutige Aggressoren“, tönte Arkadiusz Mularczyk von der PiS, Staatssekretär und Vizeaußenminister Polens, laut Handelsblatt vom 9. August 2023. Und weiter: Eine deutsch-polnische Übereinkunft könnte als Blaupause für eine russisch-ukrainische Lösung dienen. Ebenso deutlich wurde ein polnischer Diplomat im Sommer des vergangenen Jahres in Wien: Der Ukraine-Krieg sei Polens Geheimwaffe, um die Frage der Reparationen zu internationalisieren.

Ob sie nun im penetrant-anklagenden Stil à la Kaczyński oder eher freundlich-einfordernd à la Tusk daherkommt – die Warschauer Raupe Nimmersatt scheint nicht sattzukriegen zu sein.

Und die Bundesrepublik Deutschland? Sie wird – nach allen bislang gemachten Erfahrungen – sicherlich (finanzielle) Mittel und Wege finden, um das „komplizierte“ deutsch-polnische Verhältnis, natürlich ganz im Sinne Warschaus, zu „verbessern“.

Regieanweisung an die deutsche Seite: „Bitte immer schön gebückt bleiben!“

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