Der Traum von „Turan“ – Geopolitische Phantasmagorien

Wie ein linguistischer Topos zu einem politischen Kampfbegriff werden kann

Gutgebaute junge Männer tragen lederne Westen. Auf deren Rückseite prangt der Schriftzug „Turan“. Im blauen Wappen des 2002 gegründeten Vereins „Turanspor Rheydt e. V.“ sind drei weiße Halbmonde zu sehen. Ansprechpartner für Interessenten ist der Türkische Kulturverein in Mönchengladbach, einer Großstadt im Westen des Bundeslandes Nordrhein-Westfalen.

Wer auf YouTube das Stichwort „Turan“ eingibt, wird schnell fündig. Auf dem Kanal „TURAN ethno-folk ensemble“ ist ein rund vierminütiges Musikvideo zu sehen, dem durchaus eine hohe Symbolkraft innewohnt. Ein junger, drahtiger Mann kniet auf dem Boden; die Arme sind mit dicken Seilen fixiert. Die Augen werden durch eine schwarze Binde verdeckt. Musiker mit Fellmützen geben kehlige, rauhe Laute von sich. Sie sind denen von Schamanen sehr ähnlich. Zu den Tönen von Hörnern, gitarrenähnlichen Zupfinstrumenten, Trommeln und einem geigenartigen Instrument kämpft der Mann verzweifelt mit den Seilen. Er richtet sich auf und zerrt weiter an den kräftigen Tauen. Hinter einer nebelartigen Wand werden zwei blutige Handinnenflächen sichtbar. Schließlich befreit sich der Gefesselte und springt auf artistische Weise in die Höhe. Er zerreißt mit entschlossenem Ruck das letzte Seil, das seine Handgelenke fesselte. Im Hintergrund tauchen junge sportliche Männer mit entschlossenen Gesichtern auf. Das Video verzeichnete innerhalb von neun Jahren immerhin 5,2 Millionen Aufrufe.

Der Filmbeitrag steht quasi stellvertretend für den Kampf um die Gemeinschaft aller Turkvölker unter einem Dach. Dazu müssen Widerstände überwunden bzw. – wie im geschilderten Videofilm – Fesseln gesprengt werden. Erstrebtes Ziel ist das Reich „Turan“, dessen Ausdehnung gigantische Ausmaße hat: vom Balkan bis nach China ins Gebiet der Uiguren.

In Deutschland wurde „Turan“ lange Zeit als geographischer Begriff verstanden. So heißt es in „Meyers Konversationslexikon“ der 1870er Jahre: „... im Gegensatz zu dem persischen Tiefland Iran … alles im Norden desselben gelegene Land, also gleichbedeutend mit Zentralasien.“ Und im Neuen, 1938 und 1939 erschienenen „Brockhaus-Lexikon“ lesen wir: „Turan, das Tiefland zwischen den Gebirgen Innerasiens und dem Kaspischen Meer, Hauptteil Russisch-Turkestans.“

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Der (Pan-)Turanismus geht als eine pseudohistorische Ideologie von einem gemeinsamen Ursprung der Turkvölker, Finno-Ugrier, Mongolen und mandschu-tungusischen Völker aus. Die eigentliche Urheimat dieser „Turanier“ oder der „turaniden Rasse“ sei Turan, eine mythische Landschaft in Zentralasien, jenseits des Oxus (Amudarja). Gleichzeitig bezeichnet Turanismus das Bestreben, diese Völker zu einer geistigen und kulturellen Einheit zusammenzufassen. Im Bild: Pan-türkische Kundgebung in Istanbul im März 2009. (Turanismus oder Pan-Turanismus werden häufig als Synonym zum Begriff des Panturkismus verwendet, dessen Einheitsgedanke sich allerdings ausschließlich auf Turkvölker beschränkt und keine finno-ugrischen, mongolischen oder anderen Völker umfaßt.)

Die Anfänge des Turanismus …

… liegen in Ungarn in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts als Reaktion auf den Pangermanismus und Panslawismus. Maßgeblich beteiligt an der Ausprägung waren Turkologen. Einer dieser Vertreter war der jüdisch-ungarische Reisende und Turkologe Hermann Vámbéry. In „Sketches of Central Asia“ widmete er 1868 ein Kapitel den „Turaniern“. Vámbéry glaubte, daß alle türkischen Gruppen einer einzigen Rasse angehörten. Drei Jahre zuvor hatte er bereits gedanklich ein turanisches Imperium entworfen. Es sollte von der Adria bis weit nach China hinein reichen. Später sollte er sich von dieser Chimäre distanzieren.

Möglicherweise trugen seine guten Kontakte zur Führungsspitze der Jungtürken auch dazu bei, daß das Konzept des Turanismus dort Aufnahme fand.

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Einer der Gründerväter des Turanismus war Hermann Vámbéry, recte: Hermann Bamberger (* 19. März 1832 in St. Georgen bei Preßburg, Kaisertum Österreich; † 15. September 1913 in Budapest, Österreich-Ungarn), ein jüdisch-ungarischer Orientalist, Turkologe, Reisender und vermutlicher Geheimagent in britischen Diensten, der zum Islam übertrat. Gemälde von Mihály Kovács, Öl auf Leinwand, 1861

Ein weiterer Orientalist mit großem Einfluß auf die Entwicklung des Turanismus war Léon Cahun. Begünstigt wurde der Turanismus ferner durch die russischen Vormärsche in Zentralasien in den 1860er Jahren und auch durch die Behandlung der Türken im neu gebildeten Bulgarien. Die allgemeine Verbreitung der Rassentheorie trug ebenfalls zur Entstehung des Turanismus bei.

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David Léon Cahun (* 23. Juni 1841 in Hagenau/Elsaß; † 30. März 1900 in Paris), ein jüdisch-französischer Schriftsteller und Orientalist, verfaßte viele Schriften zum Thema Asien, Kleinasien und Turan

In Ungarn erfreute sich die Strömung des Turanismus infolge der ethnischen Besonderheit der Ungarn (zumindest der ungarischen Sprache) inmitten slawischer und anderer indoeuropäischer Völker eine Zeitlang großer Popularität. So erschien dort von 1913 bis 1970 regelmäßig eine Zeitschrift namens „Turan“. Ferner verfolgte die 1918 gegründete und später umbenannte „Turanische Gesellschaft“ die Ziele des Turanismus.

Entscheidende Anstöße von den Dichtern Namık Kemal und Mehmed Ziya Gökalp

Russisch-Turkestan war der zur damaligen Sowjetunion gehörende westliche Teil Turkestans zwischen Kaspischem Meer und dem Pamir-Tienschan-Gebirgszug, bestehend aus dem Turanischen Tiefland mit seinen Randgebirgen. Schon im 19. Jahrhundert wurde der Begriff „Turan“ völkisch aufgeladen. 1839 entstand in der Türkei die Turanische Gesellschaft. 1855 schlug der deutsche Orientalist und Philologe Friedrich Max Müller (1823-1900) eine neue Gruppierung der nicht-arischen und nicht-semitischen asiatischen Sprachen vor. Im Buch „Die Sprachen des Kriegssitzes im Osten“ ordnete er jene Einzelsprachen dem Oberbegriff „turanisch“ unter.

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Friedrich Max Müller (* 6. Dezember 1823 in Dessau; † 28. Oktober 1900 in Oxford), ein deutscher Sprach- und Religionswissenschaftler, definierte vom linguistischen Blinkwinkel aus das Turanische

Die entscheidenden Anstöße für den Turanismus kamen aber aus der Türkei selbst. Namık Kemal (1840-1888), ein türkischer Dichter und Publizist, hat durch sein Schaffen einen enormen Einfluß auf die Herausbildung einer türkischen nationalen Identität ausgeübt. Kemal trat in seinen Gedichten und Theaterstücken entschieden für die Souveränität der Nation ein, die für ihn das Vaterland („Vatan“) war. Ihm schuldeten die Menschen mehr Loyalität als dem Monarchen, sprich: dem Sultan. Vorbild war für Kemal die Dritte Französische Republik, weshalb er unter anderem auch die persönliche, die Presse- und die Gedankenfreiheit sowie die Verantwortlichkeit der Beamten einforderte.

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Namık Kemal, eigentlich Mehmed Kemal (* 21. Dezember 1840 in Tekirdağ; † 2. Dezember 1888 als Inselgouverneur auf Chios), ein türkischer Dichter und Schriftsteller, ist für seinen großen Einfluß auf die jungtürkische Bewegung und den türkischen Patriotismus sowie National-Liberalismus bekannt. Kemal war den Angaben der Großloge der Freien und Angenommenen Maurer der Türkei zufolge ein Freimaurer

„Vatan“ bezog sich zunächst auf die territorialen Grenzen des Osmanischen Reiches. Als „Turan“ wurde der Begriff mit einer neuen territorialen Orientierung verbunden: nunmehr war „Turan“ die Heimat, das Dach, unter dem alle Turkvölker Platz finden sollten. Als maßgeblicher Vertreter gilt der Soziologe, Politiker, Dichter und Schriftsteller Mehmed Ziya Gökalp (1876-1924), der von einem „Türkentum“ sprach, womit er die Einheit der Turkvölker meinte.

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Mehmed Ziya (* 23. März 1876 in Çermik; † 25. Oktober 1924 in Istanbul), ab 1911 unter dem Schriftstellernamen Ziya Gökalp bekannt, ein türkischer politischer Publizist, Essayist, Intellektueller und Mitbegründer der Soziologie im Osmanischen Reich und der modernen Türkei, gab die gedankliche Orientierung für die Errichtung der modernen Türkei als säkularer Staat. Seine Ideologie sieht eine strikte Ablehnung von (Pan-)Islamismus und Osmanismus vor, stattdessen wird der Türkische Nationalismus hervorgehoben. Die stärksten Pfeiler seiner Ideologie waren der Islam und das Türkentum. Er gilt als einer der prominentesten Verfechter des Turanismus. Nach Angabe der Großloge der Freien und Angenommenen Maurer der Türkei war auch Ziya Gökalp ein Freimaurer

Der Turanismus ist heute durchaus noch populär. Seine Anhänger bezeichnen sich als „Ülkücü“, sprich: als Idealisten oder auch radikale Nationalisten; uns besser bekannt als „Graue Wölfe“ (türkisch, „Bozkurtlar“ oder „Bozkurtçular“). In ihrer Mehrzahl sind sie Mitglieder der Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) oder der Partei der Großen Einheit (BBP). Bei Veranstaltungen, auch in der Bundesrepublik, wird immer wieder der Wolfsgruß gezeigt, eine Geste, die auf urtürkische Gründungsmythen zurückgeht.

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Die Wolfskopf-Flagge wird von den Grauen Wölfen und anderen panturkistischen Gruppen verwendet

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Die Symbole der Grauen Wölfe auf einem Auto in München, 2019

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Der „Wolfsgruß“ der Grauen Wölfe

Dem Ergenekon-Mythos zufolge führte ein Wolf die von Feinden bedrohten Ahnen des türkischen Volkes aus einem Tal (Ergenekon) heraus, womit sie gerettet werden und neue Macht entfalten konnten. Die drei Halbmonde („üç hilal“), die auch das Parteilogo der Milliyetçi Hareket Partisi (MHP, „Partei der Nationalistischen Bewegung“) zieren, stehen für die Kontinente Asien, Afrika und Europa, die früher teilweise zum Osmanischen Reich gehörten.

Rund 11.000 „Ülkücü“-Anhänger in der Bundesrepublik

Der „Verfassungsschutz“ beziffert die Zahl der in der BRD aktiven „Ülkücü“-Anhänger auf etwa 11.000. Rund 9.400 von ihnen seien in Vereinen bzw. Dachverbänden organisiert: Schätzungsweise 7.000 in rund 160 Ortsvereinen in der „Föderation der Türkisch-Demokratischen Idealistenvereine in Deutschland e. V.“ (ATÜTDF), 1200 (25 Vereine) in der „ATIB – Union der Türkisch-Islamischen Kulturvereine in Europa e. V.“ sowie 1.200 in der „Föderation der Weltordnung in Europa“ (ANF). Diese Vereine sind unter dem Dach größerer Verbände zusammengeschlossen.

Der Antijudaismus ist in diesen Organisationen recht stark ausgeprägt. Zum einen äußert er sich durch Kritik an der Finanzoligarchie, die mit dem Judentum gleichgesetzt wird und die den Globus mit einem Netz umspannt halte. Zum zweiten wird Israel heftig kritisiert und Partei für die Palästinenser genommen, die den türkischen Nationalisten in religiöser, geschichtlicher und kultureller Hinsicht sehr viel näherstünden. Nicht von ungefähr beteiligen sich in Deutschland lebende „Ülkücü“-Anhänger an pro-palästinensischen Demonstrationen.

Dem „Verfassungsschutz“ schwant jetzt natürlich Böses. So könnten „Ereignisse und Konflikte im Zusammenhang mit der Türkei eine starke Emotionalisierung bei türkischstämmigen Nationalisten und Rechtsextremisten hervorrufen. Diese können sich auf die Sicherheitslage in Deutschland auswirken, da die Türkei als ursprüngliche oder auch nur ideologische Heimat zentraler Bezugspunkt für Anhänger der ,Ülkücü‘-Ideologie ist.“

An mahnenden Stimmen hat es in den zurückliegenden Jahren nicht gefehlt: Eine zügellos betriebene Einwanderung würde auch zu einem Konfliktimport führen, hieß es immer wieder.

Zynisch betrachtet, wird jetzt in deutschen Landen die Ernte eingefahren – die Saat wurde durch eine Politik der offenen Tür gelegt, zumal auf deutschem Boden auch ein Clan-Krieg tobt, dem die deutsche Polizei zunehmend hilflos gegenübersteht: Syrer gegen Albaner, Tschetschenen gegen Libanesen. In die harmonische links-liberale „Multikulti“-Propaganda nach dem Motto „Friede, Freundschaft, Eierkuchen!“ will die Realität so gar nicht passen.

Vor diesem Hintergrund ist die „Turan“-Ideologie zwar nachvollziehbar, dürfte sich jedoch schwerlich umsetzen lassen, da die Interessen Rußlands und nicht zuletzt auch Chinas berührt werden würden.

Titelphoto: Ethno-Folklore-Ensemble TURAN

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