Die große Spaltung

In den USA findet eine gigantische Binnenwanderung statt – ein Indiz für die wachsende Polarisierung.

In den USA zu leben, ist auch nicht mehr das, was es einmal war. Im „Land der unbegrenzten Möglichkeiten“ wächst der Unmut darüber, daß die Möglichkeiten längst nicht mehr so unbegrenzt sind wie früher. Das hat viele Gründe. Die einen beschweren sich über hohe Steuersätze, zunehmenden Bürokratismus, wachsende Unsicherheit – und linksliberale Auswüchse wie Gender an den Schulen und lasche Verbrechensbekämpfung. Andere fühlen sich nicht wohl, weil sich zu viele ihrer Nachbarn als Trump-Wähler zu erkennen geben und auf Demokraten nicht gut zu sprechen sind. Die USA sind zunehmend dabei, sich neu zu sortieren.

Den Trend beobachten Politikwissenschaftler schon seit längerem. Der Journalist Bill Bishop hat darüber bereits 2009 ein Buch unter dem Titel „The Big Sort“ („Das große Sortieren“) veröffentlicht. Denn Bishop und andere Experten registrieren schon seit den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts, verstärkt aber in jüngster Zeit eine gigantische Binnenwanderung in den USA. Erstmals in der Geschichte der Vereinigten Staaten sind vielen US-Amerikanern Bildungsmöglichkeiten, Lebensqualität und Immobilienpreise ihres Wohnorts nicht mehr so wichtig. Wichtiger ist die Nähe Gleichgesinnter. Ein konträres Umfeld wird zunehmend als Belastung empfunden.
 

Die Bruchlinien verlaufen entlang der beiden großen politischen Lager. Man könnte es mit einer Art politischem Magnetismus vergleichen: eher republikanisch eingestellte Amerikaner „flüchten“ zunehmend aus demokratischen Bundesstaaten oder Städten, weil sie es dort nicht mehr aushalten. Die umgekehrte Bewegung gibt es ebenfalls, aber sie ist geringer ausgeprägt.

Unter dem Strich führt die Entwicklung dazu, daß sich die Vereinigten Staaten nicht nur politisch, sondern auch geographisch polarisieren. Die Penn State University interpretierte die neue Binnenmigration 2021 als „geographische Form der Polarisierung“.

Im Zuge dieses Prozesses werden die Hochburgen der beiden Parteilager noch homogener. Auf der politischen Landkarte der USA zeigt sich das darin, daß die Zahl der sogenannten „Super-Erdrutsch“-Wahlbezirke („super landslide counties“), in denen einer der beiden Präsidentschaftskandidaten mindestens 80 Prozent der Stimmen auf sich vereinigen kann, im Laufe der Jahrzehnte deutlich zugenommen hat.

Der US-Politologe Larry Sabato hat dazu aussagekräftige Zahlen: seiner Analyse zufolge wuchs die Zahl der „Super-Erdrutsch“-Bezirke unter allen 3143 US-Wahlkreisen zwischen 2004 und 2020 von sechs auf 22 Prozent an.

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Der italienischstämmige Politikwissenschaftler Larry Joseph Sabato (* 7. August 1952) ist Inhaber des Robert-Kent-Gooch-Lehrstuhls für Politik an der University of Virginia , wo er auch das Center for Politics gründete, das sich für die Förderung von bürgerschaftlichem Engagement und Partizipation einsetzt.

Sabato schreibt: „Im Jahr 2004, als George W. Bush der jüngste republikanische Präsidentschaftskandidat war, der mit der Mehrheit der Stimmen gewann, wurden weniger als 200 der etwa 3.100 Bezirke des Landes von der einen oder anderen Partei mit mindestens 80 % der Stimmen gewählt. Bis 2020 stieg die Zahl solcher ‚Super-Erdrutsche‘ auf fast 700 Wahlkreise. Der Großteil davon, ganze 95 %, wurde vom Republikaner Donald J. Trump angeführt.“ Und: „Trumps Wahlsiege konzentrierten sich auf weiße, ländliche Bezirke im Greater South, im Inneren Westen und in den Great Plains, während Bidens Wahlsiege in ein paar Großstädten, Universitätsstädten und kleineren Bezirken mit einem hohen Anteil stark demokratischer Nichtweißer stattfanden.“

Folgt man Experten wie Sabato oder Bill Bishop, dann ist ein solcher Befund die sichtbare Folge des „Big Sort“ – der großen, stillen Binnenmigration, die die US-amerikanische Gesellschaft erfaßt hat. Sie hat in den letzten zehn Jahren parallel zur wachsenden politischen Polarisierung Fahrt aufgenommen und verstärkt diese ihrerseits. „Gruppen von Gleichgesinnten tendieren dazu, im Laufe der Zeit in ihrer Gleichgesinnung extremer zu werden“, weiß Bishop, und: „Sie [die Amerikaner] sortieren sich immer noch so, daß die Orte zunehmend republikanisch oder zunehmend demokratisch werden.“

Zwischen 2020 und 2022 hat der Corona-Ausnahmezustand die Entwicklung nochmals kräftig beschleunigt: ganze Familien „flüchteten“ regelrecht aus demokratisch regierten Bundesstaaten wie Kalifornien, die sich in Zeiten der „Pandemie“ alles andere als liberal positionierten. Während Linksliberale – wie in Westeuropa auch – Maskenzwang, „Lockdowns“ und andere Schikanen befürworteten, packten viele US-Amerikaner, denen Freiheit und Selbstverantwortung am Herzen lagen, ihre Koffer und zogen weg, zum Beispiel ins republikanische Florida, nach Idaho, Tennessee oder in einige republikanisch dominierte Wahlkreise im ansonsten „roten“ Texas. Der Immobilienkonzern Redfin war einer der ersten, der prognostizierte, daß im Corona-Jahr 2022 „die Menschen mit ihren Füßen abstimmen und an Orte ziehen werden, die mit ihrer Politik übereinstimmen“.

Auch dazu gibt es illustrative Zahlen. Laut dem Texas Real Estate Research Center der Texas A&M University kamen mehr als zehn Prozent der Corona-Flüchtlinge, die es während der „Pandemie“ nach Texas zog, aus dem „linken“ Kalifornien, die meisten aus dem Süden des „Golden State“.

Noch eindeutiger ist das größere Bild: die fünf Bundesstaaten, die von der Massenflucht am meisten betroffen sind, werden alle von demokratischen, also linken Gouverneuren regiert. Nach Angaben des US Census Bureau haben Kalifornien, New York, New Jersey, Michigan und Illinois zwischen 2010 und 2019 zusammen nicht weniger als vier Millionen Einwohner verloren. Bestätigt wird das durch die Tatsache, daß die fünf Bundesstaaten, die den größten Zustrom verzeichnen, die republikanisch geführten Staaten Florida, Texas, Tennessee, Ohio und Arizona sind. Allein die Bevölkerung von Texas stieg in den letzten zehn Jahren um fast vier auf rund 29 Millionen. Umgekehrt zogen nach Recherchen der „Los Angeles Times“ allein zwischen Frühjahr 2020 und Sommer 2022 nicht weniger als 500.000 Menschen aus dem linken Kalifornien weg.

An den beiden letztgenannten Staaten läßt sich die voranschreitende Polarisierung der US-amerikanischen Gesellschaft geradezu exemplarisch aufzeigen. Unter dem demokratischen Gouverneur Gavin Newsome entwickelte sich der von jeher liberale „Golden State“ zum linken Vorzeigestaat, wo „Diversität“, Gender-Politik und LGBT-Themen großgeschrieben werden. Besonders unangenehm sind vielen noch die strengen Corona-Maßnahmen in Erinnerung, die der Wirtschaft schadeten und bis heute noch schaden.

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Er entwickelte sich mit seiner linkslastigen Gesellschaftspolitik zunehmend zu einem Schreckgespenst für republikanisch gesonnene US-Bürger, die schließlich in Massen das Land verließen: Gavin Christopher Newsom (* 10. Oktober 1967 in San Franzisko, Kalifornien), seit dem 7. Januar 2019 Gouverneur von Kalifornien. Zuvor war er ab 2011 Vizegouverneur dieses Bundesstaates gewesen. Von 2004 bis 2011 amtierte er als Bürgermeister von San Franzisko.

Genau entgegengesetzt positionierten sich republikanische Staaten wie Texas unter Gouverneur Greg Abbott und Florida unter Ron DeSantis, der bis vor kurzem noch als Präsidentschaftskandidat gehandelt wurde. Während letzterer schon während der „Pandemie“ auf Selbstverantwortung setzte und eine Reihe von Maßnahmen der Biden-Regierung demonstrativ nicht umsetzte, wies Abbott Behörden und Universitäten in Texas an, bei der Vergabe von Posten und Studienplätzen nicht länger Kriterien wie „Diversität“, Gleichstellung und Inklusion zugrundezulegen.

Inzwischen hat sich ein eigener Begriff für die überwiegend konservativen Binnenmigranten eingebürgert, die es in „blaue“ Hochburgen zieht: „Leftugees“ – abgeleitet von den englischen Wörtern für links (left) und Flüchtlinge (refugees). Und die Flucht vor linken Biotopen vollzieht sich nicht nur im großen Maßstab, quer durch USA. Auch regional, im kleineren Maßstab, „sortieren“ sich die Amerikaner.

Zum Beispiel in Denver, der Hauptstadt von Colorado, die bis 2023 vom demokratischen Bürgermeister Michael Hancock, einem Farbigen, regiert wurde. 2020, nach dem Tod des schwarzen Serienverbrechers George Floyd in Minneapolis, wurde die Stadt besonders heftig von Ausschreitungen der schwarzen Krawallsekte „Black Lives Matter“ heimgesucht. Es kam zu Bränden und Plünderungen, die Behörden setzten auf „Deeskalation“, was alles nur noch schlimmer machte. Viele Bürger, vor allem einkommensstärkere, zogen die Flucht aufs Land vor, ins republikanische Douglas County. Dort entstand mit der Gemeinde Sterling Ranch innerhalb weniger Jahre eine Art Musterstädtchen für weiße Mittelständler und Familien, mit einer hochmodernen Sicherheits-Infrastruktur und einem schnelleren Internet als im Rest des Bundesstaates.

Auch aus zahlreichen anderen demokratisch regierten Großstädten fliehen viele Bewohner aufs Land, wo sie tendenziell unter Gleichgesinnten sind; etwa aus San Francisco, Manhatten und Chikago. Eine Umfrage von 2021 ergab, daß 42 Prozent der Techniker in der San Francisco Bay Area und etwa 40 Prozent der New Yorker diese – demokratisch regierten – Ballungsräume am liebsten verlassen würden.

Ein anderer Weg wird gerade an der US-amerikanischen Westküste beschritten. Dort gibt es im liberalen Bundesstaat Oregon inzwischen eine handfeste Sezessionsbewegung. Sieben eher ländlich geprägte Bezirke, die 2020 mit bis zu 80 Prozent für Donald Trump stimmten, wollen sich abspalten und fordern den Anschluß an das konservative Idaho. Es gibt eine regelrechte Unabhängigkeitsbewegung, die von Organisationen wie „Citizens for Greater Idaho“ oder „Move Oregon's Border“ getragen wird. Am liebsten würde man sogar ganz Oregon mit Ausnahme der großen – linken – Städte im Nordwesten an Idaho anschließen.

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Mit der Situation in Oregon sind diese Demonstranten unzufrieden und möchten daher, daß ihr Landkreis an Idaho angeschlossen wird.

Aus ihrem Unmut über die Regierung in Portland machen die Sezessionisten kein Geheimnis. Auf ihrer Webseite bekennt die Bewegung: „Oregon wird auch weiterhin amerikanische Werte und amerikanische Freiheiten verletzen, weil normale ländliche Amerikaner in Oregon in der Unterzahl sind.“ In Idaho hingegen sei die Welt noch in Ordnung, außerdem seien die Steuern dort niedriger.

Daß im äußersten Nordwesten der USA die Grenzen demnächst neu gezogen werden und Idaho vielleicht sogar bald am Pazifik liegt, ist eher unwahrscheinlich. Die Parlamente beider Staaten und außerdem der Kongreß müßten der Neugliederung zustimmen, was eher unwahrscheinlich ist. So wird der Unmut auch in Oregon fortschwelen – wie an tausend anderen Orten in den Vereinigten Staaten. „God's Own Country“ ist im neuen Jahrhundert so tief gespalten wie seit dem Bürgerkrieg (1861–1865) nicht mehr. Sezessionsbewegungen wie in Oregon und der „Big Sort“ sind nicht zu übersehende Indizien dafür.

Wo die Entwicklung noch hinführt, läßt sich schwer vorhersagen. Das linke Hollywood jedenfalls hat mit einem Blockbuster unter dem Titel „Civil War“ (Bürgerkrieg), der passenderweise im Wahljahr 2024 in die Kinos kommt, schon einmal eine düstere Prognose gewagt. Auch dort ist von Strömen flüchtender Amerikaner die Rede, von Abspaltungen und einem Präsidenten, der die eigene Bevölkerung bombardieren läßt. So weit muß es nicht kommen. Daß die USA unruhigen Zeiten entgegengehen, steht aber außer Zweifel.

Tiltefoto: Mittels detaillierter demografischer Daten zeigt der den Demokraten zuneigende Journalist Bill Bishop (*1953), wie die US-Amerikaner Jahrzehnte damit verbracht haben, sich in homogene Gemeinschaften einzuteilen – nicht nur in Regionen oder Bundesstaaten, sondern auch in Städten und Stadtteilen.

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