Der "Anarcho-Kapitalist" mit der "Kettensäge"

Kriegt "der Jefe" die Gratwanderung zwischen Populismus, Dollarfixierung und orthodox-libertären Positionen hin?

Eine Inflation von 143 Prozent, dazu eine Armutsrate von um die 40 Prozent. In einer solchen Situation sehnt sich die Bevölkerung wohl eines fast jeden Landes auf dem Globus nach einem Steuermann, der mit kräftigen Händen das Ruder packt und das schlingernde Schiff wieder auf den richtigen Kurs bringt.

Argentinien hat jetzt einen neuen „Jefe“: Javier Milei vom Wahlbündnis La Libertad Avanza („Die Freiheit rückt vor“) gewann jüngst die Stichwahl gegen seinen Widersacher, den Kandidaten der links-peronistischen Regierungspartei und amtierenden Wirtschaftsminister Sergio Massa, mit 56 Prozent.

Doch wer ist Milei (Jahrgang 1970), der sich selbst als „Anarcho-Kapitalisten“ bezeichnet? Er studierte zunächst Wirtschaftswissenschaften, ehe er eine Position als Chefvolkswirt bei einer privaten Rentenversicherungs-Gesellschaft einnahm. Bei der Bank HSBC (Hongkong & Shanghai Banking Corporation Holdings) mit Sitz in London war er dann als Wirtschaftswissenschaftler tätig. Die HSBC wurde 1865 – zur Zeit des Opiumhandels mit China – gegründet. Zu den Gründeraktionären zählte seinerzeit u. a. das in Deutschland ansässige Bankhaus Joh. Berenberg, Gossler & Co. In jüngerer Vergangenheit sorgte HSBC mehrfach für Negativ-Schlagzeilen. Im April 2010 verhängten die US-Behörden gegen die Bank eine Geldstrafe in Höhe von 1,5 Mio. US-Dollar – Grund: der Verkauf riskanter Anlageprodukte. Britische Stellen belegten die Bank im Dezember 2011 mit einer Geldbuße von 10,5 Mio. Pfund. Sie sahen es als erwiesen an, daß ältere Kunden, von denen manche bereits im Altersheim lebten, „unangemessen“ beraten worden seien.

Der Peso: für Milei ein "Exkrement"

Überdies fungierte Milei im Auftrag des damaligen Gouverneurs von Tucumán, Antonio Domingo Bussi (1926-2011) – einst stark in die Militärdiktatur involviert –, als Berater des Congreso de la Nación, der Legislative Argentiniens. Jetzt schrieb er sich eine „neue libertäre Revolution“ auf die Fahnen. Nicht von ungefähr hat er seinen fünf riesigen Mastiff-Hunden die Namen neoliberaler Ökonomen wie Milton Friedman und Robert Lucas gegeben. Überhaupt erinnert Milei an einen ungestüm vorwärtsdrängenden jungen Welpen.

Während des Wahlkampfes kündigte Milei an, die Zentralbank aufzulösen, die öffentlichen Ausgaben „mit der Kettensäge“ zu kürzen, die Zahl der Ministerien zu halbieren und das Waffenrecht zu liberalisieren. Außerdem standen auf Mileis Wahlkampf-Agenda die Privatisierung staatlicher Firmen, ja sogar des Gesundheitswesens sowie der Bildung und Erziehung. Auch sprach er sich gegen Abtreibung und Sexualkundeunterricht aus. Und: Den Peso – für ihn ein „Exkrement“ (!) – möchte er durch den US-Dollar ersetzen.

Massive Unterstützung erfuhr Milei, wie die Financial Times berichtete, von Eduardo Eurnekian, dem Besitzer des Mischkonzerns Corporación América, Argentiniens drittreichstem Oligarchen. Milei arbeitete auch für Eurnekian und gelangte mit dessen Unterstützung in die Politik. Eurnekian, Jahrgang 1932 und Sohn armenischer Einwanderer, verfügt laut Forbes über ein Nettovermögen von 2,3 Milliarden Dollar. Den Großteil seines Reichtums erwarb er mit Medien und Flughäfen. Zum Imperium Eurnekians zählen unter anderem 53 Flughäfen, ein Autobahnbetreiber, ein Mineralöl-Unternehmen, dazu eine Biodiesel-Anlage und mehrere landwirtschaftliche Projekte. Im Februar 2018 ging seine Corporación America Airports an die New Yorker Börse. Sein Neffe Martin, der das XXL-Firmen-Imperium einst übernehmen soll, ist CEO. Im Herkunftsland seiner Vorfahren, in Armenien, ließ er einen Flughafen bauen, engagiert er sich auf dem landwirtschaftlichen Sektor. In der argentinischen Handelskammer bekleidet er die Position des ersten Vizepräsidenten. 1995 wurde Eurnekian in Argentinien „Unternehmer des Jahres“.

der-anarcho-kapitalist-mit-der-kettensaege
Eduardo Eurnekian ist ein argentinischer Unternehmer armenischer Herkunft. Nationalheld Armeniens.

Schlechte Erfahrungen mit Dollar-Anbindung

Eurnekians neuestes Projekt ist der Bau einer Fernstraße durch die Anden. So gigantomanisch der Milliardär auch anmuten mag – die von seinem Ziehsohn Milei vorgesehene Dollarisierung bezeichnete er als eine „Vereinfachung“ der derzeit akuten Probleme Argentiniens.

Einen Wimpernschlag der Geschichte ist es her, daß Argentinien eben durch jene Anbindung an den Dollar auf die schiefe Bahn geriet. 1991 entschied der damalige Finanzminister Domingo Cavallo angesichts der galoppierenden Inflation, den Wert des Pesos mit Hilfe eines festen Wechselkurses an den Dollar zu koppeln, und zwar legte er den Wechselkurs bei einem Peso zu einem Dollar fest. Das sorgte bei Fachleuten für Kopfschütteln. So stellte Olivier Blanchard, Professor für Volkswirtschaftslehre am Massachusetts Institute of Technology (MIT), Ende 2001 in einem Gastkommentar für das Handelsblatt mit der Nüchternheit des Ökonomen fest: „Argentinien ist nicht die USA und der Peso ist nicht der Dollar. Argentiniens Volkswirtschaft ist klein und befindet sich auf der Südhalbkugel, die Volkswirtschaft der USA ist groß und vielfältig und befindet sich auf der Nordhalbkugel. Argentinien exportiert Kühe und Rohstoffe, die USA exportieren High Tech und Dienstleistungen. Argentinien unterhält Handelsbeziehungen mit Brasilien, die USA mit Japan. Argentinien muß hart dafür kämpfen, um Investoren anzuziehen, die USA locken Kapital aus der ganzen Welt an.“ Vor diesem Hintergrund bezeichnete Blanchard den gleichen Wechselkurs als „ein Verbrechen an der argentinischen Volkswirtschaft“.

der-anarcho-kapitalist-mit-der-kettensaege
Domingo Felipe Cavallo ist ein argentinischer Staatsmann und Ökonom, ehemaliger Außen- und Wirtschaftsminister.

Doch bis 1999 hatte nichts auf einen großen Krach hingedeutet: Argentinien verbuchte hohe Wachstumsraten. Zudem verschwand die Inflation recht zügig. Doch alsbald schon folgten die Einschläge, und das in kurzer Reihenfolge: Brasilien entwertete seine Währung um etwa 50 Prozent, wodurch die Preise für Rohstoffe – Argentiniens Hauptausfuhrgüter – stark sanken. Zugleich stieg der Wert des Dollars während der Clinton-Jahre – die Schlinge begann sich langsam, aber sicher zuzuziehen. Ab 1999 stagnierte das Wachstum. Das Haushaltsdefizit schoß förmlich in die Höhe, woraus die Gläubiger den Schluß zogen, ihr Geld nicht zurückzuerhalten. Cavallo wiegelte ab: die Haushaltsprobleme seien nicht so miserabel, wie dargestellt. Doch fürchteten die Gläubiger den Zahlungsausfall – und schwangen die Zins-Peitsche, und zwar kräftig um die 50 Prozent, womit die Hoffnung schwand, daß die Regierung zu solchen Zinssätzen Kredite aufnehmen konnte.

Libertär und anarchokapitalistisch, warum aber auch rechts?

Seine rechte Prägung, die zu Milejs schillernder Persönlichkeit und Programmatik dazugehört, hat „el loco“ – „der Verrückte“, wie ihn die Mitspieler seines Fußballvereins Chacarita Juniors nannten – mutmaßlich vom Ex-General und Gouverneur der Provinz Tucumán, Antonio Domingo Bussi erhalten. Gute Kontakte zum rechten militärischen Hintergrund der politischen Szenerie in Argentinien, der stets ein wachsames Auge auf die Entwicklung im Lande warf, dürfen also bei Milei vorausgesetzt werden, was wiederum im Umkehrschluß nicht bedeutet, er habe einen Schutzbrief des Militärs in Händen.

Die argentinische Armee ist – ähnlich wie die chilenische – stark am deutschen bzw. preußischen Vorbild ausgerichtet. Die Regierung in Buenos Aires beschloß in den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts, die Armee ihres Landes zu reorganisieren und sich dabei an der modernen und effektiven deutschen Armee zu orientieren. Deutsche Offiziere waren bereits seit 1890 in Buenos Aires als Instrukteure aktiv. In diesem prodeutschen Klima fanden unter der ersten Regierung von General Peron (1946-1955), der zudem Ende der dreißiger Jahre argentinischer Militärattachée in Berlin gewesen war, Tausende von (nicht nur) deutschen Nationalsozialisten, Regierungsbeamten, Fach- und Geheimdienstleuten sowie Offizieren Zuflucht vor ihrer Aburteilung in Europa.

Wird es Unruhen geben?

Wie geht es weiter nach der jüngsten Wahl im Land der majestätischen Berge, der glitzernden Schmelzwasserseen und der schier endlosen Weideflächen? Ältere Argentinier mögen sich vielleicht an das Jahr 1966 erinnern, als der durch einen Militärputsch an die Macht gelangte Präsident Juan Carlos Onganía (1914-1995) eine „nationale Revolution“ (Revolución Argentina) verkündete. Als Begleitmusik zur wieder stärkeren Anlehnung an die USA erfolgten dann aber Re-Privatisierungen eines Teils des staatlichen Sektors, festgelegt in einem Gesetz vom 31. August 1966. Zudem wurden US-Konzernen neuerliche Konzessionen erteilt. Die Antwort der Bevölkerung bestand in Kampfaktionen. So gab es im Dezember 1966 und im März 1967 Generalstreiks, die am 29. Mai 1969 im „Cordobazo“ gipfelten, als Arbeiter den bewaffneten Kräften im Barrikadenkampf gegenüberstanden.

Setzt Javier Milei sein „Kettensägen“-Programm in die Tat um, sind im achtgrößten Staat der Erde erneut Unruhen vorprogrammiert – so wie zuletzt 2001 geschehen, als es auf den Straßen richtig krachte und Plünderungen an der Tagesordnung waren. Gespannt sein darf man auch auf die Rolle der Gewerkschaften, die traditionell den Peronisten nahestehen, jener von Juan Domingo Perón (1895-1975) ins Leben gerufenen politisch-sozialen Bewegung, die – sich am nationalsozialistischen Deutschland und am faschistischen Italien orientierend – zahlreiche soziale Projekte ins Leben rief.

Denn deutlich über ein Drittel der Wählerinnen und Wähler hat nicht für Milei gestimmt.

Hauptfoto: Javier Miley © Agustin Marcarian / Reuters.

ОК
Im Interesse der Benutzerfreundlichkeit verwendet unsere Internetseite cookies.