„Zur Stunde ist wieder eine Generation Rezession auf dem Weg, in der zahllose gut qualifizierte Jugendliche um unbezahlte Volontariate konkurrieren. Bemerkenswerterweise halten sich diese Jungen stoisch aufrecht: »They keep calm and carry on«, selbst wenn sie ihr Studium mit einem Berg Schulden abschließen. Nicht selten haben sie Studiengänge ins Nichts absolviert, erfunden von hastigen Reformern, die längst in Rente sind, wenn der von ihnen in den April geschickte Nachwuchs auf dem blockierten Arbeitsmarkt eintrifft.“
Peter Sloterdijk: „Zeilen und Tage – Notizen 2008-2011“; Suhrkamp Verlag,
Berlin, 2012, S. 302
Schon die ersten, hier vorgelegten Zahlen sind dazu angetan, bei manchem Leser urplötzliche Schwindelgefühle zu erzeugen: Wie aus Daten des Statistischen Bundesamtes hervorgeht, gab es im Wintersemester 2020/21 an den bundesdeutschen Hochschulen insgesamt 2.944.145 Studierende. Damit hat sich deren Zahl innerhalb von 20 Jahren um mehr als 1,1 Millionen bzw. um 63,6 Prozent erhöht. Dieser geradezu ins Auge stechende Anstieg kommt nicht von ungefähr, wobei die Leserschaft jetzt gebeten wird, sich noch fester anzuschnallen.
1995 belief sich die Studienberechtigtenquote bei bei Frauen auf 38,1 % und bei Männern auf 34,7 %. 2012 waren es dann bereits 64,3 bzw. 55,1 %. 2020 betrugen die Quoten immerhin noch 52,5 bzw. 41,4 %. Die Bundeszentrale für politische Bildung zog daraus einen Schluß, der sich im ersten Moment auch klar aus dem Zahlenmaterial ergibt: Frauen erwerben häufiger die Hochschulreife. Sie nutzen, so die Bundeszentrale, diese jedoch seltener für die Aufnahme eines Studiums.
Es ergeben sich jedoch bei näherem Nachdenken weitere Fragen. Eine wäre: Beginnt der Mensch erst mit dem Abitur? Eine zweite könnte lauten: Kann die – mit Verlaub – Abiturienten-Schwemme für das Gesamtgefüge einer Nation überhaupt gesund sein? Und zuletzt noch eine dritte, vielleicht die entscheidende Frage: Wie kommen die Abiturnoten bzw. -zeugnisse in deutschen Landen überhaupt zustande?
Nun, die Bundesrepublik Deutschland verfügt seit jeher über ein föderales Bildungssystem. Kritiker, unter ihnen viele Pädagogen und Eltern, sprechen von einem „Flickenteppich“ und mahnen eine Vereinheitlichung an, wobei sie dabei den Bund in der Pflicht sehen, entsprechende Maßnahmen zu ergreifen. Denn kein anderer als dieser hat sich die Aufgabe gestellt, gleichwertige Lebensverhältnisse im gesamten Bundesgebiet herzustellen. Und dazu zählt ohne Frage die Vergleichbarkeit der Abschlüsse. Die Realität ist auch hier eine andere, die im 2020 erschienenen Buch „Der Abitur-Betrug. Vom Scheitern des deutschen Bildungsföderalismus“ schonungslos offengelegt wird.
An den früher eher selektiv ausgelegten deutschen Universitäten – im Bild die 1472 gegründete Ludwig-Maximilians-Universität zu München in Bayern – kam es seit der Ära Brandt (1969–1974) zu einer übereilten, ja hastige Ausweitung der Studentenzahlen. Bei dieser schubartigen Vergrößerung der Einrichtungen geschahen viele Fehler. So wurden in sehr kurzer Zeit abertausende neugeschaffene Stellen an den Universitäten mit Bewerbern aus ganz wenigen Geburtsjahrgängen besetzt – es handelt sich vorrangig um die Geburtsjahrgänge 1940–1944 –, Stellen, die daraufhin dann für fünfunddreißig Jahre besetzt blieben. Nach Ablauf dieser Zeit fielen gerade die vielen neugeschaffenen geisteswissenschaftlichen Positionen unter ministeriellen „Kann-wegfallen“-Status (der Kultusministerien). Die sich aus einem solchen Hin-und-Her ergebenden Verwerfungen und schweren Fehlallokationen von Ressourcen kennt jeder Universitätsangehörige aus eigenem Erleben.
„Fragwürdiges Niveau“
Die Autoren Mathias Brodkorb (von 2011 bis 2016 Bildungsminister von Mecklenburg-Vorpommern) und Katja Koch filetieren in ihrer 152-seitigen Streitschrift das föderal angelegte bundesrepublikanische Bildungssystem am Beispiel des Abiturs. Mit ihm sind aus Sicht der Verfasser zwei zentrale Probleme verbunden: zum einen „sein fragwürdiges Niveau“ und zum anderen „die mangelnde Vergleichbarkeit der Abschlüsse“.
Daraus folge nicht allein „ein eklatantes Gerechtigkeitsproblem für unsere Schüler“, sondern es „schlummert hierin“ auch „ein staatspolitischer Skandal. Das Grundgesetz verpflichtet die staatlichen Organe … in Artikel 3 dazu, ihre Bürger nach gleichen und sachlich begründeten Maßstäben zu behandeln. Beim Abitur … wird diese Pflicht seit Jahrzehnten erkennbar verletzt. Inzwischen haben wir 16 vollkommen unterschiedliche und zudem kaum durchschaubare Systeme. … Gleichzeitig ist, als Folge einer … politisch gewollten Steigerung der Abiturientenquote, das Niveau der Abschlüsse offensichtlich verfallen.“
Dabei soll das Abitur eigentlich auf ein Hochschulstudium vorbereiten, in dem neben beharrlichem Arbeiten Selbständigkeit, logisches Denken und die Fähigkeit, auch einmal Schwierigkeiten zu überwinden, gefragt sind. Doch wie heißt es schon in Goethes „Faust – Der Tragödie erster Teil“, 1808, wo Mephistopheles im Studierzimmer zu seinem Schüler sagt:
„Grau, teurer Freund, ist alle Theorie,
Und grün des Lebens goldner Baum.“
Das Zauberwort lautet „Kurssystem“: Damit das Abitur bundesweite Anerkennung findet, müssen die Länder ab Klassenstufe 5 zumindest 265 Wochenstunden anbieten. Das Problem: In einigen Ländern wird das Abitur nach acht (G8), in anderen nach neun Jahren (G9) „gebaut“, womit sich im Hinblick auf die letzten beiden Schuljahre eine unterschiedliche Anzahl von Wochenstunden ergibt. Damit ist es quasi unmöglich, einheitliche Stundentafeln für alle Länder festzulegen. Statt Stunden gibt es in jener Qualifikationsphase Kurse; deren Bandbreite liegt zwischen den Länder laut Kultusministerkonferenz zwischen 34 und 48 zu belegenden Kursen.
Das Studienangebot der deutschen Hochschulen – im Bild die 1386 gegründete Ruprecht-Karls Universität zu Heidelberg in Baden – war jahrhundertelang klassisch geprägt, komplettiert im Zuge der industriellen und sozialen Umbrüce ab dem 19. Jahrhudert durch natur- und weitere gesiteswissenschaftliche Fakultäten. Das Centrum für Hochschulentwicklung (CHE) hat die Zahl der Studiengänge in der BRD für 2017 zusammengerechnet und ist auf die Zahl 19.000 gekommen. Jeder dritte neue Studiengang hat einen englischen Titel – beispielsweise „Culinary Arts and Food Management“. Das Ausweichen in die Fremdsprache dient dazu, bereits mit Worten die Dürftigkeit und Absurdität vieler Angebote zu bemänteln. Allein von 2014 bis 2017 erfand die politisch angetriebene Hochschulbürokratie 2000 neue Namen, die als Studiengänge ausgewiesen wurden.
Und jetzt beginnt – ähnlich wie bei der Zusammenstellung des Frühstücks am Büffet – die „Gestaltung“ der Abitur-Durchschnittsnote. Dazu Brodkorb und Koch: „Gar nicht so selten geschieht es, daß … ein Schüler, der Chemie … ,abgewählt‘ und seine Punkte in einem so genannten ,Laberfach‘ geholt hat, … am Ende den Platz fürs Medizinstudium ergattert.“ Und jene Mitschülern, die sich durch die Naturwissenschaften quälte, schaut in die Röhre, da „sie in Chemie und Physik ,nur‘ eine gute Zwei oder schlechte Eins erreicht hat“.
Reförmchen statt Reformen
Mittlerweile zeichnet sich am Horizont ein Silberstreif ab – auf den ersten Blick jedenfalls. So sollen die Regelungen für die gymnasiale Oberstufe in allen Bundesländern einheitlicher werden, wobei die Änderungen die Qualifikationsphase – also die letzten Jahre vor dem Abitur – betreffen. Demzufolge soll es in Zukunft nur noch zwei bis drei Leistungskurse geben. Bislang waren bis zu vier gestattet. Naturwissenschaften sollen – statt in zwei je Woche – künftig mit mindestens drei Wochenstunden gelehrt werden. Auch für die Gesellschaftswissenschaften ist eine Änderung vorgesehen. Sie sollen über mindestens sechs Schulhalbjahre belegt werden. Bislang wurden vier Schulhalbjahre als ausreichend angesehen. Die neuen Regelungen treten spätestens mit dem Jahr 2027 in Kraft und gelten für Schüler, die dann in die Einführungsphase eintreten. Im G8-System ist das die 10. Klasse, im G9 die 11.
Die Kultusministerkonferenz klopfte sich schon einmal auf die Schulter: Das Abitur wäre dann so einheitlich wie noch nie. Doch warnen Kritiker bereits davor, jetzt das Wörtchen „Vergleichbarkeit“ in den Mund zu nehmen. Der Deutsche Lehrerverband – er spricht mit Blick auf die Änderungen von „Trippelschrittchen“ – verweist auf einen entscheidenden Punkt: die Unterschiede in den Abituraufgaben. Mathias Bordkorb und Katja Koch gehen in ihrer Publikation noch einige Schritte weiter. Aus ihrer Sicht ist eine Abiturientenquote von (nur noch) rund 20 % wünschenswert, wobei sie sich unter anderem auf Erkenntnisse der Intelligenzforschung stützen. Eine Halbierung der Quote könne zudem einen wichtigen Beitrag zur Lösung des Nachwuchsproblems im Handwerk leisten. Neben einheitlichen Rahmenplänen fordern die Autoren einheitliche Stundentafeln und Bewertungsmaßstäbe sowie eine einheitliche Lehrerbildung.
Zum Teil hohe Abbrecherquoten
Noch aber haben wir in deutschen Landen ein System, in dem es offenbar nur Methoden-, nicht aber Begabungsdefizite gibt. Jene, die sich während der Abiturientenzeit durch die „Abwahl“ von Fächern noch halbwegs durchs Leben mogeln konnten, sehen sich dann an den Universitäten einem Wind ausgesetzt, der wesentlich rauher weht. Hier sind Intelligenz, Eigeninitiative und nicht zuletzt Kampfgeist gefragt. Daran scheitern viele, wie die Studienabbrecherquoten der letzten Jahre beweisen. Laut einer im August 2022 veröffentlichten Studie des Deutschen Zentrums für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (DZHW) hat sich die Studienabbruch-Quote unter den deutschen Studierenden zu Beginn der Coronazeit nicht wesentlich erhöht. Zugrunde liegen der Erhebung die Daten der amtlichen Statistik zum Absolventen-Jahrgang 2020.
Die geistige Unfreiheit des in unzählige „Fachbereiche“ aufgesplitterten Universitätslehrbetriebs – die nach 1968 die wenigen klassischen Fakultäten ersetzt haben – könnte nicht so durchdringend wirksam sein, wenn nicht bereits die Schulen ausgefeilte Anstalten einer eingeübten Konformität wären. Der krasse Widerspruch zwischen Lehrinhalten des Biologieunterrichts und denen des hergebrachten Religionsunterrichts etwa ist niemals Gegenstand von Reflexion, sondern wird als etwas Hinzunehmendes betrachtet. Wo Unsinn, Unlogik, Widersinn und Kontradiktion zunehmen, ist der Akt der kritiklosen Hinnahme das offensichtliche Ziel der schulischen Unterweisung. Das System züchtet sich auf diese Weise systematisiert seine begehrten und gut bezahlten „Fachidioten“. Im Bild: Die 1456 gegründete Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald in Pommern.
Festgestellt wird aber auch: „Trotz vielfältiger Anstrengungen beenden … nicht wenige Bachelor- wie auch Masterstudierende ihr Studium erfolglos.“ Der Bezugszeitraum der Studie beinhaltet auch das Sommersemester 2020. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich die Studiensituation durch die Corona-Pandemie merklich verändert. So ist für Studenten in höheren Semestern, die im Sommer 2020 ihren Abschluß hätten erwerben können, von einem längeren Verbleib an den Hochschulen auszugehen. Bei den Berechnungen der Abbruchquoten wurde dies insofern berücksichtigt, als für jede Studentengruppe sowohl eine Abbruchquote ohne als auch eine mit längerem Studienverbleib ausgewiesen wurde.
Doch jetzt zu den Ergebnissen: Die Studienabbruchquote der deutschen Studenten, die 2016 und 2017 mit ihrer Ausbildung begannen, belief sich – bei Berücksichtigung eines längeren Verbleibs an der Universität – im Bachelor-Studium auf 28 %. Dies entspricht in etwa der Quote, die vor drei Jahren auf der Grundlage des Absolventen-Jahrgangs 2018 ermittelt wurde. (Seinerzeit waren es 27 %.) Deutlich über dem Durchschnitt liegt die Abbruchquote im universitären Bachelor-Studium in den Geisteswissenschaften mit 49 % sowie in Mathematik und Naturwissenschaften mit 50 %. Deutlich niedriger fallen die Quoten dagegen in den Rechts-, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften (21 %) sowie in den Lehramts-Studiengängen (10 %) aus. An den Hochschulen für Angewandte Wissenschaften (HAW) bietet sich dasselbe Bild: überdurchschnittlicher Abbruch in Mathematik und Naturwissenschaften (39 %), niedrige Werte in den Rechts-, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften (13 %).
Die Bundesrepublik macht’s möglich
Im Abschlußjahrgang 2018 lag die Studienabbruchquote in den Bachelor-Studiengängen in Mathematik und Naturwissenschaften bei 43 %, bei den Geisteswissenschaften bei 41 %. Relativ niedrig stellt sich die Quote auch hier in den Rechts-, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften dar (21 %). So jedenfalls geht es aus einer am 5. Mai 2023 auf statista.com veröffentlichten Übersicht hervor. Es kann also mit Fug und Recht von einer Verfestigung gesprochen werden.
Dr. Ulrich Heublein, Projektleiter der DZHW-Studie, konstatierte, „daß die ersten Monate der Corona-Pandemie trotz problematischer Studienbedingungen nicht zu einem verstärkten Ausstieg aus dem Studium geführt haben“. Auf der anderen Seite sei es in den letzten Jahren allerdings nicht gelungen, „maßgebliche Gründe für den Studienabbruch, wie die mangelnde Passung individueller Studienvoraussetzungen mit den Anforderungen des Studienbeginns, zurückzudrängen“.
Mit anderen Worten: Ein beträchtlicher Teil der Studiosi hätte in einem auf gesunden Füßen stehenden Staatswesen nie und nimmer die Gelegenheit erhalten, aufs Gymnasium zu gehen, das Abitur abzulegen und somit die Hochschulzugangsberechtigung zu erwerben.
Die Bundesrepublik, eine Ansammlung von hedonistischen „Selbstverwirklichern“, macht’s jedoch möglich.
Titelphoto: Eine Universität – im Bild die 1742 gegründete Friedrich-Alexander-Universität zu Erlangen in Franken – soll eine Hochschule sein, die sich der Gesamtheit der Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften in Forschung und Lehre widmet. In der gegenwärtigen Lage (Bologna-Prozeß) gleicht sich das deutsche universitäre Bildungssystem an das Hochschulausbildungssystem der DDR an: Bildung wird wieder in verschulte Ausbildung umgewandelt. Nach OECD-Maßstäben gilt als Meßlatte für eine erfolgreiche Bildungspolitik der Prozentsatz der Abiturienten pro Geburtsjahrgang. Diese internationalistische „good governance“-Vorgabe bedeutet, daß das sehr erfolgreiche deutsche Duale System der handwerklichen und kaufmännischen Ausbildung pauschal als politische Verfehlung und, in UN-Statistiken, als negatives Bildungsergebnis erscheint und bekämpft wird.