Das gab es nicht einmal im Frühjahr 1945, als die Rote Armee 60 Kilometer vor Berlin stand: wegen des dramatischen Munitionsmangels der deutschen Streitkräfte fand dieser Tage eigens ein Krisengipfel im Berliner Kanzleramt statt.
Daß es bei der Bundeswehr praktisch an allem fehlt, was eine funktionierende Armee braucht, ist nichts Neues. Aber erst vor kurzem sickerten neue Hiobsbotschaften an die Öffentlichkeit durch, wie dramatisch die Situation tatsächlich ist. Demnach reicht der Munitionsvorrat derzeit gerade einmal für zwei Tage.
Das Desaster hat vielfältige Gründe. Jahrelang wurde bei den Herstellern zu wenig Munition bestellt. Infolgedessen reduzierte die deutsche Industrie ihre Kapazitäten oder stellte die Produktion ganz ein.
Vor dem Hintergrund des Ukraine-Krieges hat sich die Nachfrage nach Munition nun drastisch erhöht, auch aus den Reihen der NATO-Verbündeten. Aber: langsame Besteller, die ihren Bedarf bei den Herstellern nicht rechtzeitig anmelden, müssen sich hinten anstellen.
Andere NATO-Länder haben nach Ausbruch des Ukraine-Krieges längst bei den deutschen Munitionsherstellern Nachschub bestellt, etwa Ungarn und die Niederlande – das deutsche Verteidigungsministerium unter Christine Lambrecht (SPD) aber nicht. Sie hat es glatt verschlafen, den dringend benötigten Munitionsnachschub anzufordern.
Besonders peinlich: in Deutschland gibt es nicht einmal mehr genügend Sprengstoffhersteller, die den Bedarf der Bundeswehr decken könnten. Viele der in Frage kommenden Pulver- und Sprengstoffproduzenten, bei denen deutsche Munitionshersteller bisher einkauften, befinden sich inzwischen direkt oder indirekt in chinesischer Hand. Heißt im Klartext: Deutschland müßte sich ausgerechnet beim strategischen Rivalen China mit Pulver eindecken, um Munition für die eigene Truppe herstellen zu können.
Seit gut einem halben Jahr liefern die Chinesen aber nicht mehr an westliche Munitionshersteller. Das verkleinert den Markt, erhöht die Lieferzeiten und verteuert die Produkte. Die verbliebenen europäischen Hersteller haben mehr als genug Aufträge, können aber nicht kurzfristig produzieren. Mit Lieferzeiten von zwei Jahren und mehr ist zu rechnen. Schon allein das macht die meisten europäischen Armeen zu einem zahnlosen Papiertiger, mit dem im Ernstfall kein Krieg zu führen ist.
Der Munitionsmangel ist drastisch. Rußland hat in der Ukraine an manchen Kriegstagen 60.000 und die Ukraine 20.000 Artilleriegranaten verschossen: „Für die Bundeswehr wäre somit bereits an einem Tag alles vorbei gewesen“, heißt es dazu in einem Expertenbericht des Sicherheitsportals „Table.Media“.
Von der präzisionsgelenkten Artilleriemunition SMArt 155 verfügte die Bundeswehr zum Zeitpunkt ihrer Beschaffung im Jahr 2003 über 9.000 Stück. Einiges davon wurde an die Ukraine geliefert. Inzwischen bräuchte sowohl die Ukraine als auch die Bundeswehr dringend Nachschub. Aber der ist weit und breit nicht in Sicht.
Die letzte Lieferung SMArt 155 bekam die Bundeswehr vor 19 Jahren vom Hersteller. Danach erhielt die GIWS, ein Gemeinschaftsunternehmen von Diehl und Rheinmetall mit Sitz im Saarland, keine Aufträge mehr für diese Munition. Sie stellte die Produktion ein. Nach Recherchen von „Security.Table“ dauert es gut zwei Jahre, um allein die Produktionsstraße wieder aufzubauen, und weitere zwei bis drei Jahre, um auch nur eine niedrige fünfstellige Anzahl an SMArt 155-Granaten zu produzieren.
Aber nur auf dem Papier. Denn in der Praxis droht den Munitionsherstellern ein weiterer Engpaß: der für den Mantel der Granaten erforderliche Spezialstahl ist ebenfalls knapp. Auch dafür gibt es in der westlichen Welt nur noch wenige Hersteller.
Zu allem Überfluß steht sich die EU bei ihren Rüstungsanstrengungen auch noch selbst im Weg: denn die Umweltverordnungen (!) der EU verlangen, daß beispielsweise die Munition für das Sturmgewehr G36 oder das Maschinengewehr MG5 nur schadstoffreie – also bleifreie – Anzündhütchen verwendet. Anzündhütchen werden für das Entzünden des Schießpulvers gebraucht. In Deutschland existiert mit der Firma Ruag Ammotec GmbH im bayerischen Fürth nur ein einziger Hersteller, der dafür zugelassen und qualifiziert ist.
Und es gibt es noch einen Faktor, der einer zeitnahen Munitionsbeschaffung im Weg steht. Die Produktion neuer SMArt-155-Granaten hat zur Folge, daß die Munition von den deutschen Beschaffungsbehörden neu geprüft, qualifiziert und genehmigt werden muß. Ohne Papierkrieg läuft in Deutschland bekanntlich nichts. Von der Panzerhaubitze 2000 abgefeuert, können SMArt-Granaten mehr als 70 Kilometer weit fliegen. Aber die Bundeswehr hat überhaupt kein ausreichend großes Testgelände. Deshalb müssen die Tests im Ausland stattfinden, etwa in Norwegen oder Südafrika. Allein das kostet wertvolle Zeit, die die Bundeswehr nicht hat.
Nachschubprobleme hat man auch mit der 35 mm-Munition für den an die Ukraine gelieferten Flugabwehrkanonenpanzer „Gepard“. Die Munition im Kaliber 35 x 228 mm wurde übrigens nie in Deutschland produziert, sondern – neben der Schweiz – in Norwegen, Brasilien und bei einer Rheinmetall-Tochter in Südafrika. Deutschland hatte 30 Stück dieses bereits im Zuge der „Ausphasung“ seit 2010 ausgemusterten Flakpanzers samt 60.000 Schuß Munition an die Ukraine geliefert. Letztere dürften bald aufgebraucht sein. Etwas Munition – rund 12.000 Schuß – lagert noch in Deutschland. Die würde Verteidigungsministerin Christine Lambrecht auch gerne abgeben, doch sie darf nicht. Die Granaten wurden nämlich in der Schweiz hergestellt, und die stimmt dem Export in die Ukraine nicht zu.
Die Eidgenossen berufen sich auf ihre Neutralität und auf ihr sich selbst auferlegtes Gebot, keine Waffen in internationale Kriegsgebiete zu entsenden. Durch die Mitte November 2022 angebahnte Übernahme des spanischen Mitbewerbers Expal Systems, eines der größten europäischen Munitionsfabriken, durch Rheinmetall scheint das Problem jedoch mittelfristig – ungefähr im Sommer 2023 – behoben zu sein.
Zuletzt hatte die Bundesregierung erklärt, daß Deutschland Munition für 20 Milliarden Euro kaufen müsse. Aber: durch die dramatische Inflation verteuern sich die Kosten für Anschaffungen im Rüstungsbereich jetzt im Monatsrhythmus. Für sein Geld bekommt das Verteidigungsministerium deshalb immer weniger Material.
Eigentlich verfügt die Bundeswehr infolge des 100-Milliarden-Sondervermögens, das die Bundesregierung im Februar auf den Weg gebracht hat, über viel Geld, um längst fällige Neuanschaffungen zu tätigen. Doch in den Monaten seither ist wenig geschehen, und das Geld wird mit jedem Tag weniger wert. Viele Planungen scheiterten sogar an formalen Fehlern im Verteidigungsministerium.
Ein Ausweg aus dem deutschen Munitionsdesaster ist nicht in Sicht. Im Ernstfall ist die Bundeswehr nicht einsatzfähig. Damit sind die deutschen Streitkräfte ein vollgültiges Abbild des Zustands der Bundesrepublik: beide sind am Ende. Es gibt keine Ressourcen mehr und keinerlei organisatorische Kompetenz, um den Karren wieder flott zu machen. Sollte Putin Böses im Schilde führen, muß er nur abwarten...