Die "Linkskonservativen"

Sinn und Zweck sowie Zukunftschancen der neuen Plattform Sahra Wagenknechts.

Kaum gegründet – und schon ist es durch Abgeordnete vertreten. Das „Bündnis Sahra Wagenknecht – Für Vernunft und Gerechtigkeit“, am 8. Januar 2024 von 44 Personen als Abspaltung von der Partei Die Linke gegründet, besetzt bereits drei Sitze in verschiedenen Parlamenten.

Der Geograph Alexander King, der bis Oktober 2023 der Linken angehörte, sitzt für das BSW im Berliner Abgeordnetenhaus.

Metin Kaya, ein Sozialarbeiter und zuvor gleichfalls Mitglied der Linkspartei und der Hamburgischen Bürgerschaft, ist im November 2023 zum BSW übergetreten.

Andreas Hartenfels trat vor knapp anderthalb Jahren aus der Partei Bündnis 90/Die Grünen sowie aus deren Fraktion im rheinland-pfälzischen Landtag aus, um sich Mitte Januar der Wagenknecht-Partei anzuschließen. Als Motivation für den Eintritt gab Hartenfels laut einem Bericht des Südwestdeutschen Rundfunks (SWR) vom 15. Januar die Ukraine-Politik der Bundesregierung an, die sich auf die Lieferung von Waffen beschränke, was mit aktiver Friedenspolitik nicht das Geringste zu tun habe. Im Hinblick auf die Corona-Politik kündigte Hartenfels an, sich im Landtag für deren Aufarbeitung einzusetzen. In diesem Zusammenhang sei die Einsetzung einer Enquete-Kommission zwingend geboten.

Auf einer im Januar in Rheinland-Pfalz durchgeführten Pressekonferenz erklärte Sahra Wagenknecht, daß es sich beim BSW um „keine Neuauflage der Linken“ handele. Vielmehr verfüge das Bündnis auch in der Pfalz über ein breites Spektrum an Menschen, das sich von ihm angesprochen fühle. So hätten sich dem BSW auch diverse Unternehmer angeschlossen. Hinzu kämen Menschen aus den Bereichen Kultur und Sport, so beispielsweise der frühere Profi-Fußballer Andreas Buck, der u. a. für den SC Freiburg, den VfB Stuttgart, Mainz 05 und den 1. FC Kaiserslautern aktiv gewesen ist.

Mit Blick auf die Landtagswahl 2026 gäbe es zudem recht klare Vorstellungen. So soll das Wahlprogramm mit Hilfe eines „Expertenrates“ erstellt werden. Als zentrale Themen für Rheinland-Pfalz werden neben der Bildungspolitik und der finanziellen Notlage vieler Kommunen die Probleme der Krankenhauslandschaft und der Mangel an Landärzten angesehen. Ein flächendeckender Antritt bei den in diesem Jahr stattfindenden Kommunalwahlen wird hingegen als eher unwahrscheinlich angesehen, wobei – wie der SWR mitteilte – Personal in Ludwigshafen, im Landkreis Kaiserslautern sowie in Pirmasens und Bad Kreuznach vorhanden sei, um bis zum April die Wahllisten zu füllen.

Gute Umfragewerte

Die (Wahl-)Schwerpunkte des Bündnisses dürften nach jetzigem Erkenntnisstand in den Ländern des Beitrittsgebiets liegen. Dort stehen im September 2024 in gleich drei Bundesländern (Sachsen, Thüringen und Brandenburg) Landtagswahlen auf dem Programm. Die Chancen für das BSW, in die dortigen Vertretungen einzuziehen, sind nicht einmal schlecht. Laut einer von Infratest Dimap im Auftrage des Mitteldeutschen Rundfunks Mitte Januar durchgeführten Umfrage erklärten acht Prozent der Befragten, bei der sächsischen Landtagswahl dem BSW ihre Stimme zu geben. Die Linke kam in der Erhebung auf nur noch vier Prozent; stärkste Kraft würde demnach die AfD (35 Prozent) vor der CDU (30).

Der Wahltrend für Thüringen verzeichnete – Stand: 17. Januar – 33,3 Prozent für die AfD, für Die Linke 15,9 Prozent und – immerhin – für das Wagenknecht-Bündnis um die elf Prozent. In Brandenburg kam das BSW im Durchschnitt der Institute INSA und Forsa auf 8,9 Prozent.

Doch wofür steht das BSW eigentlich? „Hier links, da rechts“ betitelte der Deutschlandfunk einen am 27. Januar gesendeten Beitrag. In der Tat ist diese Einschätzung nicht von der Hand zu weisen, wie ein Blick auf die Forderungen beweist. So wird neben mehr sozialer Gerechtigkeit eine Begrenzung der Migration verlangt. „Wir müssen wieder reden über gesellschaftliche Ungleichheit, über die Enteignung der Fleißigen“, erklärte Sahra Wagenknecht auf dem Gründungsparteitag. Es gebe immer mehr Berufe, die in den vergangenen Jahrzehnten zumindest einen bescheidenen Wohlstand ermöglicht hätten, die aber heutzutage keine Chance böten, ein halbwegs gutes Leben zu führen. Ihrer einstigen Partei Die Linke wirft Wagenknecht vor, sich auf ein „urbanes Milieu“ zu beschränken und für die Interessen von „skurrilen Minderheiten“ statt für „normale Leute“ zu streiten. Dieser Vorwurf richtete sich dabei auch an die Adresse der Grünen.

Laut Einschätzung des Deutschlandfunks verfolgt die neue Partei die „Strategie eines Linkskonservatismus“, was tatsächlich bereits an den Gründungspapieren, die der Verein, der die Parteigründung vorbereitet hat, deutlich wird. So müsse die Zuwanderung auf eine Größenordnung begrenzt bleiben, „die unser Land und seine Infrastruktur nicht überfordert“. Den Nerv vieler Zeitgenossen dürfte auch die Grobeinschätzung zum Energiethema treffen: Die Energieversorgung der Bundesrepublik Deutschland lasse sich – im Rahmen der derzeit zur Verfügung stehenden Technologien – nicht allein mit Hilfe erneuerbarer Energien gewährleisten. Auch der Forderung zum militärischen Sektor werden unter Garantie sehr viele Deutsche zustimmen. So soll die Bundeswehr sich einzig und allein auf die Landesverteidigung konzentrieren, sollen Auslandeinsätze der Geschichte angehören.

Gegen offene Grenzen

Daß es zur Abspaltung Wagenknechts und ihrer Mitstreiter von der Linken kam, kann nicht so recht überraschen – vor allem, wenn man sich die in den vergangenen Jahren getätigten Äußerungen der Galionsfigur des BSW einmal näher anschaut. Wendet sie sich doch gegen die Forderung vieler Mitglieder der Linkspartei nach offenen Grenzen. Das nutze nur den Eliten der Industrieländer, die infolge der dadurch ausgelösten Arbeitsmigration von Dumpinglöhnen profitierten. Der großen Mehrheit schade dies ebenso wie den von Abwanderung betroffenen Staaten. Wagenknecht 2018 wörtlich: „Denn es sind meist Menschen mit besserer Ausbildung aus der Mittelschicht, die abwandern.“

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Sahra Wagenknecht (* 16. Juli 1969 in Jena) fand nach ihren politischen Rollen in der SED, in der PDS und in der Kommunistischen Plattform der Partei „Die Linke“ ihre ganz eigene Plattform, das „Bündnis Sarah Wagenknecht“ (BSW). Nur mit einer Partei schließt sie eine Koalition kategorisch aus: mit der AfD.

2016 mischte sich Wagenknecht in die Renten-Diskussion ein. Sie forderte, das Renteneintrittsalter von 67 wieder auf 65 Jahre abzusenken. Zur Finanzierung sollen auch Beamte und Selbständige herangezogen werden. Das erinnert an die in Österreich geübte Praxis. In der Tat gilt Wagenknecht die österreichische Rentenversicherung als Alternative. Falsch liegt sie damit keineswegs. Profitieren doch in der BRD von der (durch die Bürger privat finanzierten) Riester-Rente im großen ganzen nur die Versicherungskonzerne.

In ökonomischer Hinsicht ist sie – wie übrigens alle, die sich nach Alternativen sehnen – auf der sicheren Seite, da das Grundgesetz schlicht und ergreifend wirtschaftspolitisch neutral ausgerichtet ist. Wagenknecht selbst forderte 2009 laut Welt Online, Leistungen der Daseinsvorsorge (Wohnen, Bildung, Gesundheit sowie Wasser- und Energieversorgung), darüber hinaus die Schlüsselindustrien durch die öffentliche Hand zu tragen. Das läßt sich unterschreiben, zumal Wagenknecht keine Dogmatikerin ist.

In ihrem 2013 erschienenen Buch Freiheit statt Kapitalismus bezeichnet sie ihre Vorstellungen als „kreativen Sozialismus“ im Sinne einer „Marktwirtschaft ohne Kapitalismus“ und eines „Sozialismus ohne Planwirtschaft“.

Hier sei eine Anmerkung erlaubt. Warum sollte sich eine aus unbedingten Fachleuten bestehende Führung keine zeitlich umrissenen Ziele setzen? Beispielsweise in Gestalt eines 10-Jahres-Plans, innerhalb dessen z. B. Militär, Infrastruktur und Bildungswesen erneuert werden? Immerhin aber verwechselt Sahra Wagenknecht – im Gegensatz zu orthodoxen Marxisten – Marktwirtschaft nicht mit Kapitalismus. Zuweilen denkt sie auch pragmatisch. So schlug sie 2013, während der Finanz- und Eurokrise, einen Schuldenschnitt vor.

Antritt zur Europawahl im Juni

Den Probeballon wollen Wagenknecht und Co. im Juni starten, wenn die Wahlen zum Europäischen Parlament anstehen. Die Liste des Wagenknecht-Bündnisses wird von Fabio de Masi angeführt. Der 1980 geborene Sohn eines italienischen Gewerkschafters und einer deutschen Sprachlehrerin unternahm seine ersten zaghaften Schritte auf dem politischen Parkett bereits in jungen Jahren, als er an einer Jugendzeitung und in einer Schülervertretung mitarbeitete. Zudem schnupperte er in die Gewerkschaftsarbeit hinein.

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Fabio Valeriano Lanfranco De Masi (* 7. März 1980 in Groß-Gerau) war von 2014 bis 2017 Mitglied des Europäischen Parlaments und von 2017 bis 2021 Mitglied des Deutschen Bundestages. Zwischen 2017 und 2021 war er stellvertretender Vorsitzender der Fraktion Die Linke im Bundestag. Er ist zusammen mit Thomas Geisel designierter Spitzenkandidat des BSW bei der Europawahl 2024.

Ab 2001 studierte er an der Hamburger Universität für Wirtschaft und Politik sowie an der University of Cape Town in Südafrika über den zweiten Bildungsweg Volkswirtschaft auf Diplom. Im Anschluß daran arbeitete er als Vorstandsassistent einer gemeinnützigen, unter der Schirmherrschaft der Vereinten Nationen stehenden Unternehmensberatung. An der Berliner Hochschule für Wirtschaft und Recht erwarb de Masi den Master in Internationaler Volkswirtschaft. Darüber hinaus war er als wissenschaftlicher Mitarbeiter für verschiedene Abgeordnete der Linken im Bundestag tätig. Sein Gebiet: Europa- und Wirtschaftspolitik. Im Juni 2014 wurde er für Die Linke in das EU-Parlament gewählt, wo er für Hamburg und Nordrhein-Westfalen zuständig war. Ab 2017 gehörte er für Hamburg dem Bundestag an. 2021 trat er nicht erneut zur Wahl an. 2022 verließ er die Linkspartei, um sich zwei Jahre später dem Bündnis Sahra Wagenknecht anzuschließen.

Zur Zeit schreibt de Masi regelmäßig Kolumnen, so für die Berliner Zeitung und das Magazin für die neue Finanzwelt Finance Forward. Seit Oktober 2022 steht er als Autor für ein Buch über Finanzskandale beim Rowohlt-Verlag (Hamburg) unter Vertrag. Zudem hält er Vorträge über finanz- und wirtschaftspolitische Themen.

De Masi folgt auf der 20 Personen umfassenden Liste Thomas Geisel, der von 2014 bis 2017 als Mitglied der SPD das Oberbürgermeisteramt von Düsseldorf ausübte. Geisel und Wagenknecht bildeten im Rahmen des jüngsten Düsseldorfer Karnevalsumzuges übrigens ein  (anlaßbezogen humoristisches) Wagen-Motiv: Dabei thronte eine Sahra-Wagenknecht-Figur im Stile einer Fürstin auf dem Kutschbock, während sich hinter dem Heck in gebückter Haltung eine Nachbildung Geisels als „Wagenknecht“ befand.

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Thomas Geisel (* 26. Oktober 1963 in Ellwangen an der Jagst) war von 2014 bis 2020 SPD-Oberbürgermeister der nordrhein-westfälischen Landeshauptstadt Düsseldorf. Nach dem Abitur studierte Geisel ab 1983 in Freiburg und Genf Rechts- und Politikwissenschaften. Seine transatlantische Prägung erhielt er 1988 an der Georgetown University in Washington, D.C., an der er den Master of Arts erwarb. Die erste juristische Staatsprüfung legte er 1990 in Freiburg im Breisgau ab. Anschließend studierte er als Stipendiat des McCloy Academic Scholarship Program Wirtschafts- und Verwaltungswissenschaften an der John-F.-Kennedy School of Government der Harvard University, an der er 1992 den akademischen Grad des Master in Public Administration erwarb. Im Frühjahr 1990 absolvierte er ein dreimonatiges Praktikum im Büro des US-Senators Edward Kennedy in Washington, D.C.

Gegen Fortsetzung der Waffenhilfe für die Ukraine

Ruth Firmenich, eine gebürtige Kölnerin und auf Listenplatz 4 des BSW, absolvierte von 1985 bis 1988 an der Fachhochschule Köln den Studiengang Übersetzen/Dolmetschen in Englisch und Spanisch. Von 1988 bis 1998 studierte Firmenich an der Universität Bonn Politikwissenschaft, Amerikanistik und Germanistik. 1991 war sie Praktikantin im Bundestag, ehe sie 1995 Mitarbeiterin des Bundestagsabgeordneten Steffen Tippach, Menschenrechts- und außenpolitischer Sprecher der PDS im Bundestag, wurde. Von 2000 bis 2002 arbeitete sie als Referentin für den Bereich „Menschenrechte/Europa“ der PDS-Bundestagsfraktion. Zu Sahra Wagenknecht hat Firmenich einen engen Bezug. War sie doch zwischen 2004 und 2009 im EU-Parlament deren wissenschaftliche Mitarbeiterin und ab 2009 Leiterin von Wagenknechts Bundestagsbüro. Am 1. Januar dieses Jahres trat Firmenich aus der Partei Die Linke aus und eine Woche später dem BSW bei.

Mit Michael von der Schulenburg rangiert auf Listenplatz 3 ein Mann adligen Geblüts. Schulenburg, ein vormaliger Diplomat der OSZE und der UN, studierte Wirtschaftswissenschaften an der Freien Universität Berlin und an der London School of Economics. Im Hinblick auf den Ukraine-Konflikt kritisierte er im Mai 2022 gegenüber der Berliner Zeitung die Abhängigkeit des Westens von den USA. Von der Schulenburg wörtlich: „Europa (sollte) aus seinem ureigenen Interesse heraus gerade jetzt einen Verhandlungsfrieden im Ukrainekrieg anstreben und nicht durch eine weitere Intensivierung des Krieges auf einen Siegfrieden hoffen.“

In diesem Zusammenhang wendet sich das Bündnis Sahra Wagenknecht gegen eine Fortsetzung der Waffenhilfe für die Ukraine. Doch für welches Europabild bzw. -modell steht die gerade aus der Taufe gehobene Partei überhaupt? Sie lehnt den Moloch EU zwar nicht grundsätzlich ab, stellt in ihrem Europawahl-Programm aber fest, daß die Union „in ihrer aktuellen Verfassung … der europäischen Idee“ schade. Anstelle „erfolgreicher europäischer Zusammenarbeit“ erlebten Bürger und Unternehmen eine „ausufernde EU-Regelungswut und Berichtspflichten, die den in Brüssel einflußreichen Lobbys nützen und besonders dem Mittelstand schaden“. Die Menschen im EU-Herrschaftsgebiet „spüren den Druck zur Privatisierung öffentlicher Dienste und Angriffe auf die Daseinsvorsorge in den Städten und Gemeinden, denen es immer schwerer gemacht wird, regionale Anbieter zu unterstützen und öffentliche Leistungen kostengünstig anzubieten“. Die von Abgehobenheit gekennzeichnete „Politik ferner, demokratisch kaum kontrollierter EU-Technokraten empfinden viele Menschen zu Recht als Angriff auf die Demokratie und als Bedrohung für ihre Kultur und Identität“.

Für ein „selbstbewußtes Europa“

Die Richtung stimmt immerhin, doch steht die Wagenknecht-Truppe nach einem wundervollen Zuspiel einmal vor dem Tor... – bringt sie den Ball nicht im Gehäuse unter. Sind doch die EU-Technokraten bzw. -kommissare wiederum ausführende Organe der internationalen Hochfinanz. Darüber hinaus hat die nationalstaatliche Idee die Jahrzehnte der Reglementierung seitens der EU-Oberen überlebt – Mütterchen Nation ist für sehr viele Menschen ein überschaubarer Raum, mithin ein Hort der Geborgenheit, was eine projektbezogene Zusammenarbeit über Grenzen hinaus natürlich in keiner Weise ausschließen soll. Der volkspsychologische und -biologische Aspekt kommt – typisch für rein materialistisch denkende Linke – leider wieder mal zu kurz.

Immerhin versprechen de Masi und seine Mitstreiter, sich für ein „selbstbewußtes Europa souveräner Demokratien“ einsetzen zu wollen, ein Europa, „das nicht durch die Zentralisierung von Macht bei der EU-Kommission, sondern durch gleichberechtigte Kooperation, gemeinsame wirtschaftliche Projekte, einen einheitlichen Binnenmarkt mit fairen Regeln und kulturellen Austausch zusammenfindet“.

Mit Blick auf die europäische Außen- und Sicherheitspolitik wird im Wahlprogramm festgestellt: „Europa muß eigenständiger Akteur auf der Weltbühne werden, statt Spielball im Konflikt der Großmächte zu sein und sich den Interessen der USA unterzuordnen ...“ Es wird auf die derzeitige Rolle der EU als bloßer Wurmfortsatz Washingtons verwiesen. Sanktionen erteilt das BSW eine Absage. Statt dessen soll der „Zugang zu den Rohstoffen und Energieträgern Rußlands und Zentralasiens“ ermöglicht werden.

Das hört sich alles vielversprechend an, wobei auch festgestellt werden muß: Ein Patent auf das Modell eines eigenständigen Europas ohne Einfluß raumfremder Mächte, speziell der Vereinigten Staaten, haben Sahra Wagenknecht und Genossen in keiner Weise. Das zeigt ein Blick in das von dem Historiker, Juristen und Schriftsteller Hans Werner Neulen verfaßte und 1988 erschienene Buch mit dem Titel Europa und das Dritte Reich. Es enthält (S. 1125 f.) auch die am 9. September 1943 niedergelegten Leitsätze des Europa-Ausschusses des Auswärtigen Amtes, in denen es heißt:

„3. Deutschland strebt die Einigung Europas auf föderativer Grundlage an: freiwilliger Zusammenschluß aller europäischen Völker, die sich historisch bewährt haben, zu einer Gemeinschaft souveräner Staaten. 4. Die Gliedstaaten des europäischen Bundes behalten ihre Selbständigkeit und Freiheit, Einmischung in die inneren Verhältnisse der Staaten ist nicht beabsichtigt. (…) 9. Es wird gemeinsames Anliegen der europäischen Völker sein, Europa gegen äußere Angriffe zu sichern und zu verteidigen. 10. Die Europäische Zusammenarbeit wird die Aufgabe haben, raumfremde Einflüsse abzuwehren. (…) 14. (…) Bestehende Zollschranken sollen fortschreitend beseitigt werden, wobei auf die Schonung und Sicherung der lebensnotwendigen Wirtschaftszweige, insbesondere der kleineren Wirtschaftsgebiete, Rücksicht genommen wird.“

Angemessene Zölle für Dumping-Produkte

Das im BSW-Wahlprogramm enthaltene Europa-Modell wurde vom Grundsatz her also bereits vor acht Jahrzehnten vorgedacht, was auch den Aspekt der Nichteinmischung betrifft. So lautet eine Forderung der Wagenknecht-Partei, den Nationalstaaten ihre „haushalts-, sozial- und wirtschaftspolitische Souveränität“ zu garantieren. Ob dies auch auf Regierungsformen zutrifft, bleibt allerdings offen.

Vernünftig klingt – zumindest beim ersten Hinhören – ein weiterer Punkt: „Importe aus Drittstaaten, die sich Wettbewerbsvorteile durch Steuer-, Sozial- und Umweltdumping verschaffen wollen, sollten mit angemessenen Importzöllen belegt werden. Dabei muß eine faire weltweite Arbeitsteilung entwickelt werden, die den Ländern des globalen Südens eine Perspektive bietet.“ An diesem Punkt – der doch so wichtig ist – bleibt das Programm eher vage. Denn es reicht nicht aus, wenn private Initiativen in Afrika Brunnen graben und Schulen bauen, so löblich dies auch sein mag. Werden doch aus Kindern und Jugendlichen Erwachsene, die Arbeit benötigen. Hierbei wäre es wichtig, mehr Wertschöpfung vor Ort zu belassen, indem die Rohstoffe des ja eigentlich reichen Afrika auch dort – zumindest in den ersten Schritten – verarbeitet werden.

Der die Migration nach Europa betreffende Programmpunkt könnte so auch von der AfD geschrieben worden sein: „Wir wollen die unkontrollierte Migration in die EU stoppen, den Schlepperbanden das Handwerk legen und in den Heimatländern Perspektiven schaffen: Es darf nicht kriminellen Schlepperbanden überlassen werden, wer Zugang zur EU bekommt. Die Asyl- und Prüfverfahren zum Schutzstatus sollen daher an den EU-Außengrenzen oder in Drittländern erfolgen. Dabei ist auf menschenwürdige Bedingungen insbesondere für Kinder zu achten. Wer dort keinen Schutzstatus erhält, hat auch keinen Anspruch auf Zugang zur EU, eine Arbeitserlaubnis oder soziale Leistungen, wie z. B. Bürgergeld, in einem EU-Mitgliedsstaat.“

Gleichzeitig stehe „die EU in der Verantwortung, die Ursachen für Flucht und Migration bekämpfen zu helfen“. Hier tut sich wiederum ein Nebelschleier auf, da keine Lösungsmöglichkeit aufgezeigt wird. Eine liegt in jedem Fall auf der Hand: Der Westen muß es unterlassen – sei es aus geostrategischen, sei es aus ökonomischen Gründen – sich in innere Belange oder Konflikte einzumischen – denn daraus resultieren nicht zuletzt Fluchtbewegungen, wie es sich am Beispiel des brutalen Stellvertreterkrieges in Syrien recht gut belegen läßt. Eine weitere besteht, wie schon dargestellt, darin, mehr Wertschöpfung vor Ort zu belassen.

Eigenversorgung und regionale Produktion

Zur Landwirtschaftspolitik enthält das EU-Wahlprogramm des Wagenknecht-Bündnisses durchaus Punkte, die unterschrieben werden können – wenngleich sich daraus eine Frage ergibt: Bedarf es dazu einer wie auch immer gearteten EU? Gefordert werden neben einer Eigenversorgung und regionaler Produktion sowie einer Verarbeitung und Vermarktung „mit stabilen Preisen für Landwirte und Konsumenten“ die „Förderung von regional verankerten kleinen und mittleren Unternehmen“ und eine „verläßliche Herkunfts- und Regionalkennzeichnung“. Hier hat sich – bezogen auf die Bundesrepublik Deutschland – der Zug bereits in Bewegung gesetzt. Viele Bauernhöfe verfügen über eigene Läden, in denen vor Ort erzeugte Lebensmittel erworben werden können. Eine weitgehende Eigenversorgung mit Nahrung ist schon aus einem national-strategischen Interesse heraus von Bedeutung.

Verlangt wird zudem ein „Verbot der Spekulation mit Lebensmitteln und Boden: Boden sollte in erster Linie für ortsansässige Landwirte zur Verfügung stehen und muß bezahlbar sein.“ Hier werden Fragen von exorbitanter Bedeutung in vier dürren Zeilen abgehandelt. Einmal mehr hätte sich die Gelegenheit geboten, eine fundamentale Kritik am Börsenkapitalismus zu üben und zum zweiten, auch eine kritische Bewertung des Handels mit Boden vorzunehmen.

Bereits der US-amerikanische Ökonom Henry George (1839-1897) wies auf die sozialen Gefahren der Bodenspekulation hin und schlug vor, bei einer Wertsteigerung des Bodens – vor allem im Zusammenhang mit Bebauung – eine Ertragszuwachssteuer zu erheben. In Deutschland forderten die seit dem 19. Jahrhundert aktiven Bodenreformer, den Staat (wieder) zum Obereigentümer des Bodens zu machen und diesen als Lehen zu vergeben.

Eine Aufnahme der Ukraine in die EU wird abgelehnt. Im Wahlprogramm heißt es dazu: „Jetzt reden von der Leyen & Co. der Aufnahme der Ukraine in die EU das Wort, dem schon vor dem Krieg ärmsten Land Europas mit großen Demokratiedefiziten und uferloser Korruption. Die Aufnahme von Beitrittsgesprächen wurde kürzlich beschlossen. Finanziell wäre ein Beitritt der Ukraine ein Faß ohne Boden, politisch wäre er ein Aufgeben aller Ansprüche an Rechtsstaatlichkeit, zu denen sich die EU einmal verpflichtet hat. Offenkundig soll die wirtschaftliche und soziale Stabilität in der EU und in Deutschland als dem größten Finanzier des EU-Haushalts einem vermeintlich geopolitischen Vorteil des Westens gegenüber Rußland geopfert werden.“

Regierungsbeteiligung angestrebt

Wie aber stehen die Chancen für das Wagenknecht-Bündnis, und das nicht nur in bezug auf die Wahlen zum EU-Parlament? Der Deutschlandfunk befragte dazu Politikwissenschaftler. Thorsten Faas, Professor für Politische Soziologie der BRD an der FU Berlin, verwies auf die vielen Unzufriedenen an den politischen Rändern. Eine Wählerschaft, die inhaltlich „nicht zwingend auf der rechten Seite gebunden“ sei, könnte sich demzufolge für das BSW entscheiden. Allerdings bleibe offen, ob es der neuen Partei gelinge, flächendeckende Strukturen, sprich, 16 handlungsfähige Landesverbände aufzustellen.

Professor Andrea Römmele, eine Kommunikations- und Politikwissenschaftlerin, die an der Hertie School in Berlin tätig ist, äußert grundlegende Zweifel am Erfolg des Wagenknecht-Projekts. Das BSW bezeichnet sie als „Blumenstrauß, der von links nach rechts reicht“. Die Wählerschaft würde sich aber letzten Endes eher für das Original als für die Kopie entscheiden.

Die Parteienforscherin Sarah Wagner, die an der Atlantischen Akademie in Rheinland-Pfalz arbeitet, rechnet damit, daß schon in naher Zukunft drei, vier oder sogar noch mehr Parteien Einigung über ein Regierungsprogramm erzielen müßten. Das könne auch zu steigendem Frust im Wahlvolk führen, weil die einzelnen Parteien ihre Forderungen in einer Koalition mit vielen Partnern schwerer durchsetzen könnten. Im Hinblick auf das Wagenknecht-Bündnis sei zudem noch völlig unklar, welche Parteien überhaupt zu einer Koalition mit ihm bereit seien.

Sahra Wagenknecht selbst erblickt in der von ihr maßgeblich mitbegründeten Partei das Potential für eine grundlegende Veränderung des bundesdeutschen Parteienspektrums. Auch machte sie deutlich, daß eine Regierungsbeteiligung angestrebt werde, wobei sie Koalitionen mit der AfD kategorisch ausschließt. Als möglicher Partner kommt für sie neben der Linken auch die SPD in Frage – was aber auch bedeutet, gegebenenfalls Kompromisse eingehen zu müssen. Was dann noch vom BSW-Programm übrig bleibt?

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