Die Stunde der Wahrheit für Europa

Die Wahlen zum Europäischen Parlament 2024 nehmen den Charakter eines existenziellen Kampfes an

Es bleibt weniger als ein Monat bis zu den Wahlen zum Europäischen Parlament (EP), die vom 6. bis 9. Juni stattfinden werden. Die Union der 27 Länder mit 450 Millionen Einwohnern wird 720 Mitglieder des Europäischen Parlaments wählen, die sie in den nächsten fünf Jahren vertreten werden. Und schon heute läuten bei den Euro-Optimisten alle Alarmglocken wegen des starken Aufstiegs der rechtsextremen Kräfte.

Sie haben allen Grund, besorgt zu sein. In einem kürzlich erschienenen Bericht des Think-Tanks European Council on Foreign Relations (ECFR) beispielsweise stehen rechte und europaskeptische Parteien in gleich neun Staaten an erster Stelle - in Österreich, Belgien, der Tschechischen Republik, Frankreich, Ungarn, Italien, den Niederlanden, Polen und der Slowakei. Weitere neun Länder – Bulgarien, Estland, Finnland, Deutschland, Lettland, Portugal, Rumänien, Spanien und Schweden – liegen an zweiter oder dritter Stelle.

Infolgedessen könnten die Euroskeptiker und Nationalisten bis zu 25 Prozent der Sitze im neuen Europäischen Parlament erhalten. Gleichzeitig wird fast die Hälfte der Sitze im EP von Kräften eingenommen, die nicht der so genannten großen Koalition angehören – Europäische Volkspartei, Sozialdemokraten, Fraktion Renew Europe (Englisch für „Europa erneuern“) und Grüne –, die derzeit das Europäische Parlament kontrolliert. Analysten gehen davon aus, dass es der extremen Rechten gelingen wird, eine eigene Koalition zu bilden und die pro-europäischen Parteien zu schwächen. Darüber hinaus kann das neue Kräfteverhältnis sogar zum Zusammenbruch der großen Koalition führen und die Ausarbeitung und Verabschiedung einheitlicher Entscheidungen erheblich erschweren.

Frankreich. Die Krise der großen Koalition

Der größte Verlust für die Euro-Optimisten könnte Frankreich sein. Tatsache ist, dass die Renaissance-Partei von Präsident Emmanuel Macron eine führende Rolle in der "großen Koalition" im derzeitigen Parlament spielt, aber ein Misserfolg bei den Wahlen könnte dieses politische Bündnis zerstören. Einer neuen, exklusiven Umfrage von Euronews zufolge könnte Jordaan Bordellas Rassemblement Nationale (Nachfolgerin von Marine Le Pen) bei den Wahlen in Frankreich mehr als 31 % der Stimmen erhalten (die ultranationalistische "Reconquista" von Eric Zemmour käme auf weitere rund 6 %). Die Renaissance-Partei von Präsident Emmanuel Macron könnte 17,5 Prozent erreichen, die Sozialisten liegen mit 12,2 Prozent an dritter Stelle.

Der zu erwartende Erfolg der französischen Rechtsextremen bei den Wahlen zum Europäischen Parlament im Juni könnte die europäische Politik ernsthaft verändern. „Es wird ein existenzieller Kampf", charakterisierte Guy Verhofstadt, ehemaliger belgischer Premierminister und scheidender Abgeordneter des Europäischen Parlaments, die bevorstehenden Wahlen. „Die rechtsextremen Parteien werden eindeutig von Russland und China beeinflusst. Sie wollen Europa nicht wirklich stärken. Sie sind ein Rezept für ein schwaches Europa. Und ein schwaches Europa wird zerstört werden.“

Russland und China für alle Probleme verantwortlich zu machen, ist für linksliberale europäische Politiker zur Gewohnheit geworden. Die Wahrheit ist, dass im selben Russland die Wahlen zum Europäischen Parlament gewöhnlich als etwas betrachtet werden, das gegenüber der Europäischen Kommission und dem Europäischen Rat zweitrangig ist, und der Rechtsruck wird hier als etwas Kurioses, aber nicht als bedeutend angesehen. Und das kommunistische China ist ein Befürworter der fortgesetzten Globalisierung, man denke nur an die Rede von Präsident Xi Jinping auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos 2017, in der er dazu aufrief, „uns nicht in die dunkle Kammer des Protektionismus einzuschließen“.

Während Guy Verhofstadt und Politiker wie er also versuchen, die sinkende Popularität des linksliberalen Kurses bei den Wählern mit äußeren Machenschaften zu rechtfertigen, kommt die wahre Bedrohung für Europa von der anderen Seite. Von der wirtschaftlichen Seite.

Deutschland Die Migration und die Krise der Industrie

Anfang Mai gaben dreißig führende deutsche Unternehmen, darunter BMW, BASF und Siemens, bekannt, dass sie ein Wirtschaftsbündnis gegründet haben, um Populismus zu bekämpfen und „Vielfalt, Offenheit und Toleranz“ zu fördern. Im Vorfeld der bevorstehenden Wahlen zum Europäischen Parlament haben sich Unternehmen zusammengeschlossen, um sich gegen einwanderungsfeindliche politische Parteien zu stellen.

„Isolationismus, Extremismus und Populismus bedrohen den Wirtschaftsstandort Deutschland und unseren Wohlstand“, so das Bündnis Wir für Werte in einer Erklärung. Die Unternehmen erklärten, dass sie „ihre 1,7 Millionen Beschäftigten ermutigen, an den bevorstehenden Europawahlen teilzunehmen... um die Bedeutung der europäischen Einheit für Wohlstand, Wachstum und Beschäftigung zu unterstreichen“.

Nach Angaben des Bündnisses gibt es heute in Deutschland 1,73 Millionen unbesetzte Stellen, und in den kommenden Jahren werden jährlich zwischen 200.000 und 400.000 zusätzliche Arbeitskräfte benötigt. Die deutschen Unternehmen haben bereits mit einem Mangel an qualifizierten Arbeitskräften zu kämpfen, und die Bevölkerung altert schnell – Populisten könnten die Situation noch verschlimmern, indem sie das Land für ausländische Arbeitskräfte unattraktiv machen.

„Isolationismus, Extremismus und Fremdenfeindlichkeit sind Gift für den deutschen Export und die Arbeitsplätze hier in Deutschland - deshalb dürfen wir den Angstmachern keinen Raum geben und ihren vermeintlich einfachen Lösungen nicht nachgeben“, sagte Christian Bruch, CEO bei Siemens Energy.

Die deutsche Industrie durchlebt bereits schwierige Zeiten. Wenn die Wahlen zum Europäischen Parlament zu einer härteren EU-Migrationspolitik führen, was genau die Art von Thema ist, die die Abgeordneten des Europäischen Parlaments gut beeinflussen können, wird dies ein weiterer schwerer Schlag für die deutsche Industrie sein, die bereits billige Energie aus Russland und einen riesigen Markt verloren hat. Die Aufregung der deutschen Industriellen ist daher verständlich. Aber auch ihr Rückgriff auf die Migration ist eine „vermeintlich einfache Lösung“, wie Christian Buch es ausdrückt.

Deutschland wird bereits von Migranten überschwemmt. So ist die Zuwanderung nach Deutschland 2022 stark angestiegen, wie aus einem Bericht des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge hervorgeht, der der Bundesregierung zu Beginn des Jahres vorgelegt wurde. Dem Dokument zufolge stieg die Zahl der Migranten im Laufe des Jahres um 1,5 Millionen – 2,7 Millionen kamen ins Land und 1,2 Millionen verließen es. Und die Zahl der irregulären Migranten wird sich nach Angaben des deutschen Gemeinsamen Analyse- und Strategiezentrums illegale Migration (GASIM)  bis 2023 mehr als verdoppeln.

Zu erwarten, dass unter diesen Bedingungen keine Proteststimmung in der Gesellschaft aufkommen wird, ist äußerst naiv. Umfragen zeigen, dass die rechtsextreme Alternative für Deutschland (AfD) bei den Wahlen zum Europäischen Parlament bis zu 15 Prozent der Stimmen erhalten könnte. Dies würde zu einem Gleichstand mit den Grünen auf dem zweiten Platz führen. Und die deutschen Grünen sind traditionell eine wichtige Kraft im Europäischen Parlament.

Main Photo: Wer wird künftig im Plenarsaal des Europäischen Parlaments in Strassburg sitzen? (picture alliance / / Daniel Kalker)

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