Ganz klar: Rindfleisch und Soja, Kupfer und Eisen stehen unverändert im Mittelpunkt der chinesischen Einfuhren aus dem lateinamerikanischen Raum. Neuerdings treten aber verstärkt weitere Ausgangsmaterialien hinzu: Lithium aus dem Dreieck Chile-Argentinien-Bolivien, Balsa-Holz aus Ecuador, Bauxit und Aluminium aus Jamaika. So jedenfalls ist es einer Studie des Global Development Policy Centers der Boston University zu entnehmen. Der Grund ist schnell erklärt: In der Volksrepublik China werden diese Rohstoffe für die Energiewende benötigt. Bereits 2012 hatten die Verantwortlichen das Konzept der ökologischen Zivilisation zur Entwicklungsstrategie des gesamten Landes erklärt. Damit einher gingen eine Reihe von Reformen und administrativen Maßnahmen, die eine Umstellung der Energieproduktion auf „grüne Energien“ vorsahen. Dazu zählen neben Wasser und Wind auch Sonne und die Kernenergie.
Uwe Behrens, jahrzehntelang in China als Manager tätig, beschreibt in seinem 2021 in zweiter Auflage erschienenen Buch Feindbild China – Was wir alles nicht über die Volksrepublik wissen, wie ernst es den Chinesen mit der Umsetzung dieses Konzeptes ist. Behrens beobachtete u. a. umfangreiche Aufforstungsarbeiten. Nahezu jedes zweite Kohlekraftwerk wurde stillgelegt. An den Berghängen um Peking sowie in den Wüsten Gobi und Taklamakan stehen riesige Solarstrom- und Windkraftanlagen. Neue Atommeiler sind im Entstehen begriffen, wobei die Chinesen hierbei auf in Frankreich entwickelte Technologien zurückgreifen können. Bis 2035 soll der Anteil der Elektroautos bei mindestens 50 Prozent liegen.
Allerdings scheint Peking seit 2022 erneut zweigleisig zu fahren, indem es wieder verstärkt Kohlekraftwerke bauen läßt. „Die Zahl der genehmigten neuen Kohlekraftwerke sei so hoch gewesen wie zuletzt 2015, heißt es in einem neuen Forschungsbericht, den das finnische Zentrum für Energieforschung (CREA) und der Global Energy Monitor (GEM) vorgelegt haben. Die chinesischen Behörden genehmigten demnach den Bau neuer Kohlekraftwerke mit einer Gesamtkapazität von 106 Gigawatt – das entspricht in etwa zwei großen Kraftwerksblöcken pro Woche. Das ist viermal mehr als im Jahr zuvor und so viel wie seit 2015 nicht mehr.“ Dies berichtete die ARD letztes Jahr.
Immenser Rohstoff-Hunger
Der Rohstoffhunger des roten Drachen ist – auch unabhängig von der Energiewende – immens, da China nun einmal über eine hünenhafte Wirtschaft verfügt. Rund 20 Jahre ist es her, daß China begann, in Lateinamerika als Konkurrent neben die USA und die Europäische Union zu treten. Die Vereinigten Staaten planten eine gesamtamerikanische Freihandelszone namens ALCA, und die EU hatte ein Freihandelsabkommen mit Mercosur im Visier. Beide rannten sich gewissermaßen die Köpfe ein, da wegen der Agrarsubventionen keine Einigung erzielt werden konnte.
Just zu diesem Zeitpunkt – es war Ende November 2004 – trat China auf den Plan. Sein damaliger Staatschef Hu Jintao unternahm eine Lateinamerika-Reise. Neben Brasilien, Argentinien und Chile besuchte er auch Kuba. Die chinesische Führung sagte zu, in Südamerika in den folgenden zehn Jahren rund 100 Milliarden US-Dollar zu investieren. Das entsprach ungefähr einem Fünftel des damaligen Gesamtbestandes ausländischer Direktinvestitionen in der Region. Es entstand eine Symbiose, deren Wesen in den Lateinamerika-Nachrichten vom Januar 2005 kurz und prägnant beschrieben wurde: „Die Wirtschaftsinteressen Südamerikas, deren Exporte etwa zur Hälfte aus Rohstoffen bestehen, und Chinas, dessen brummende Wirtschaft die beständige Sicherung des Zugriffs auf Rohstoff- und Energiequellen verlangt, sind gut miteinander vereinbar. Die Strategie der chinesischen Regierung ist es, durch Investitionen in den Herkunftsländern die direkte Kontrolle über die benötigten Ressourcen zu erlangen.“
Er brachte das chinesische Engagement in Südamerika ins Rollen: Hu Jintao (* 21. Dezember 1942 in Jiangyan/Taizhou) war von 2003 bis 2013 Staatspräsident der Volksrepublik China. Von 2002 bis 2012 war er Generalsekretär der Kommunistischen Partei Chinas und als Vorsitzender der Zentralen Militärkommission der Oberbefehlshaber der Volksbefreiungsarmee und somit „Überragender Führer“ (von Partei, Staat und Armee) der Volksrepublik China. Im März 2013 wurde er von Xi Jinping als Staatspräsident abgelöst.
So waren beispielsweise im Hinblick auf Brasilien neben dem Ausbau von Stahl- und Aluminiumwerken und einer Vertiefung der Kooperation im Erdölsektor Investitionen in Infrastrukturprojekte wie Hafenanlagen und Eisenbahnstrecken vorgesehen. Mit Kuba wurden seinerzeit 16 Kooperationsabkommen unterzeichnet. Sie betrafen unter anderem die Bereiche Biotechnologie, Tourismus, Telekommunikation und Bildung. Argentinien, dessen Wirtschaft angeschlagen war, wurden 20 Milliarden US-Dollar zur Verfügung gestellt. Außerdem floß chinesisches Geld in die Sektoren Telekommunikation und Satellitentechnik sowie in die Erschließung von Bodenschätzen.
Starke Investitionstätigkeit
2015 erhielten die Lateinamerika-Nachrichten dann Gelegenheit, Vollzug zu melden: Die chinesischen Investitionen lagen zu diesem Zeitpunkt in der Region Südamerika bei 100 Mrd. USD. Überhaupt beließen es die Chinesen nicht bei bloßen Ankündigungen. Wie aus einer 2021 veröffentlichten Analyse der UN-Organisation Comisión Económica para América Latina y el Caribe (CEPAL) hervorgeht, gehört die Volksrepublik China zu den Hauptinvestoren in Lateinamerika und der Karibik. Dabei gehe es ihr nicht ausschließlich ums Geldverdienen, sondern auch und gerade um den Zugriff auf die Infrastruktur. Stellt diese doch die Lebensadern für den Transport der Rohstoffe nach China. Die CEPAL untersuchte dabei die wichtigsten Investitionen Chinas für Lateinamerika und die Karibik, sortiert nach Branchen, im Zeitraum von 2005 bis 2020. Demnach nahm die Strom-, Gas- und Wasserversorgung mit 37 Prozent die Spitzenposition ein, gefolgt von Gas und Öl (28), Bergbau (16), Fertigung (9), Transport und Lagerhaltung (5) sowie Land- und Forstwirtschaft, Fischerei und Rinderfarmen (3).
Laut den Forschern der Boston University geht der Investitionsfluß seit seinem Höhepunkt im Jahr 2019 (hier erreichte er 17,7 Mrd. USD) zwar zurück, weil sich China gegenwärtig auf seine Binnenwirtschaft konzentriere, doch gibt es immer neue Projekte.
Nur drei Beispiele. In Peru läßt der chinesische Hafenbetreiber Cosco Shipping Ports den Hafen Chancay ausbauen. Die geplante Investitionssumme beläuft sich auf 600 Mio. US-Dollar. Mit Chancay verbinden die Chinesen große Pläne: Er soll der wichtigste Pazifikhafen Südamerikas werden und eine Schlüsselrolle im Seidenstraßen-Projekt in der Region einnehmen.
Das peruanische Chancay, bisher ein Geheimtip für Touristen, die zur Beobachtung von Seevögeln anreisten, 80 Kilometer nördlich von Lima an der Pazifikküste gelegen, wird zum neuen chinesischen Logistikknotenpunkt ausgebaut.
In Argentinien erwarb die Zijin Mining Group im dritten Quartal 2021 für den Preis von 770 Mio. USD den Salar Tres Quebradas. Es handelte sich um das lukrativste Projekt zur Lithium-Gewinnung, das seinerzeit in Argentinien zu vergeben war. In Chile hatte Ende 2021 das Yallique-Konsortium bei der Ausschreibung für eine fast 1500 Kilometer lange Hochspannungs-Gleichstromleitung die Nase vorn. Zu der Vereinigung gehört neben der lokalen Transetec und dem kolumbianischen Unternehmen ISA auch China Southern Grid International (CSG).
"Stetig selbstbewußter"
Die chinesischen Aktivitäten sind zudem mit kräftigen Stützpfeilern versehen. Dazu zählen neben der Seidenstraßen-Initiative und Freihandelsabkommen die Bereitstellung von Krediten über das staatliche Bankensystem und bilaterale Darlehens-Vereinbarungen mit einzelnen Ländern, allen voran Argentinien und Ecuador. Seit 2018 hat China mit 21 Staaten Lateinamerikas und der Karibik eine Absichtserklärung über den Beitritt zur neuen Seidenstraßen-Initiative unterzeichnet, zuletzt 2022 mit Argentinien. Für sechs Länder jenes Raumes ist China zum bedeutendsten Handelspartner geworden: Neben Argentinien, Brasilien und Chile sind dies Panama, Peru und Uruguay. Das bleibt nicht ohne Folgen für das Konsumverhalten. So tragen südamerikanische Käufer immer häufiger Kleidung oder Schuhe mit dem Stempel „Made in China“; im Straßenverkehr sind immer mehr chinesische Autos zu beobachten, und Jugendliche nennen günstige Rechner und Telefone von Huawei oder Lenovo ihr eigen.
Wie sagte doch der Politiker und Parteiführer Deng Xiao Ping (1904-1997) einst so pragmatisch treffend? „Es ist egal, ob eine Katze schwarz oder weiß ist, solange sie Mäuse fängt.“
Doch welche Strategie verfolgt Europa in Gestalt der „Europäischen Union“ mit Blick auf den südamerikanischen Kontinent? Anläßlich des jüngsten, im Juli 2023 durchgeführten EU-Lateinamerika-Gipfels in Brüssel wurde angekündigt, bis 2027 mehr als 45 Mrd. Euro in Lateinamerika und der Karibik investieren zu wollen. Die Zauberformel heißt hierbei „Global-Gateway-Investitions-Agenda“ (GGIA), die eine Liste mit insgesamt 130 Projekten umfaßt. So soll in Kolumbien eine U-Bahnlinie errichtet werden. Für Brasilien ist der Ausbau des Telekommunikations-Netzes im Amazonas-Gebiet geplant. Paraguay wird nach den EU-Plänen Hilfe bei der Modernisierung seines Stromnetzes erhalten. Und Costa Rica soll bei der Elektrifizierung des öffentlichen Nahverkehrs unter die Arme gegriffen werden. Vorgesehen ist auch eine Zusammenarbeit auf dem Gebiet der grünen Energien.
Das Portal Euronews verwies dankenswerterweise auf einen weiteren Aspekt: Die EU benötige Rohstoffe. So verfüge Südamerika über 85 Prozent der weltweiten Lithium-Reserven, zudem auch über Seltene Erden.
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sparte während ihrer Rede zunächst nicht mit blumigen Worten: Lateinamerika, die Karibik und der europäische Raum bräuchten „einander mehr denn je“. Die Welt sei konfliktbeladener als je zuvor und befinde sich noch in „den Nachwehen der Corona-Pandemie“. Jetzt wurde sie „von der Aggression Russlands gegen die Ukraine getroffen“. Schließlich ließ Frau von der Leyen dann doch noch die Katze aus dem Sack: „Gleichzeitig tritt China im Ausland stetig selbstbewußter auf.“ Aus diesen Worten klingt gewissermaßen – ob gewollt oder nicht – auch eine gehörige Portion Respekt. Denn in der Tat ist China zu einem wirtschaftlichen XXL-Riesen geworden, der auch in Lateinamerika und der Karibik seine Fußspuren hinterlassen hat.