Die Letzten Hemmungen fallen

Jetzt rollen wieder Panzer: Die deutsche Politik im Kriegsrausch gegen Rußland

Bis vor kurzem hätte es jeder normale Mensch für undenkbar gehalten: Fast 80 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg werden nun demnächst wieder deutsche Panzer gegen Rußland rollen. Aber die Zeiten sind längst nicht mehr „normal“ – und diejenigen, die im Westen die Entscheidungen treffen, sind es offenbar auch nicht.

So oder so: die Bundesregierung hat letzte Woche die Entscheidung getroffen, nunmehr auch „Marder“-Schützenpanzer an die Ukraine zu liefern. Beobachter gehen davon aus, daß es dabei nicht bleiben wird. Selbst die Lieferung schwerer „Leopard 2“-Kampfpanzer, wie von Kiew sehnsüchtig erwartet und von westlichen Kriegsbefürwortern gefordert, ist jetzt vermutlich nur noch eine Frage der Zeit ist. Die Lieferung der „Marder“ ist ein politischer Dammbruch.

Nachdem sich die Bundesregierung der Forderung nach deutschen Panzern monatelang widersetzt und dabei auf die Position westlicher Verbündeter verwiesen hatte, hatten jüngst ausgerechnet diese dem deutschen Kurswechsel die Bahn geebnet: Frankreich hatte die Lieferung von Kanonen-Spähpanzern des Typs AMX-10, die US-Regierung die Lieferung von „Bradley“-Schützenpanzern an die Ukraine angekündigt. London erwägt die Lieferung von bis zu zehn Kampfpanzern des Typs Challenger 2, dem britischen Pendant zum deutschen Leopard 2. Dadurch geriet die Regierung von Bundeskanzler Scholz unter Zugzwang – und knickte prompt ein.

1987 trat Scholz hingegen als Vizechef der SPD-Jugendorganisation „Jungsozialisten“ auf einer Friedenskundgebung de Freien Jugend der DDR in Wittenberg noch für Abrüstungsvereinbarungen ein. 1988 versicherte eine von Scholz mit geführte Juso-Delegation ihren Partnern von der FDJ, „daß die wahren Feinde des Friedens (…) im Militär-Industrie-Komplex der USA“ sowie in der „Stahlhelm-Fraktion“ der Unionsparteien zu suchen seien. (Quelle: welt.de – 13. Januar 2022, abgerufen am 31. Januar 2022)

Hardliner sehen in der „Marder“-Lieferung zurecht ein Signal, daß jetzt nichts mehr undenkbar ist. Sie reagierten umgehend mit noch weitergehenden Forderungen. Tatsächlich zeigt sich in der „Ampel“-Regierungskoalition unter Kanzler Scholz nur noch dessen SPD zurückhaltend. Die Koalitionspartner der stets extrem „anpassungsfähigen“ F.D.P. und die bis dato anti-militaristischen Grünen sind dagegen voll auf Kriegskurs.

So erklärte etwa der Vorsitzende des Europaausschusses im Bundestag, der bisher stets so friedensbewegte linke Grünen-Abgeordnete Anton Hofreiter: „Ich würde mir wünschen, daß wir als Hauptherstellungsland für den ‚Leopard 2‘ eine europäische Initative starten für die Lieferung von ‚Leopard 2‘.“ Auf die konkrete Frage, ob er Mitglied der NATO-treuen Lobbygruppen Atlantik-Brücke und/oder des German Marshall Fund of the United States sei, antwortet Herr Dr. Hofreiter nach über einem Monat ausweichend. (Siehe hierzu Frage von Bernd H. am 21. April 2022 um 11:18 Uhr auf abgeordnetenwatch.de)

Auch seine Parteifreundin, die Vizepräsidentin des Bundestages Katrin Göring-Eckardt, bis 2013 Mitglied der Atlantik-Brücke, spricht sich für die Übergabe von Kampfpanzern an die Ukraine aus. Der grüne Vizekanzler Robert Habeck will sie ebenfalls nicht ausschließen.

Auch in der F.D.P. sehen sich die Eskalationsbefürworter nun bestätigt und drängen auf die nächsten Schritte der Konfrontation. Die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses im Bundestag, die Rüstungslobbyistin Marie-Agnes Strack-Zimmermann, Vizepräsidentin der ebenfalls NATO-treuen Deutsch-Atlantischen Gesellschaft, erklärte unumwunden: „Wir lassen nicht locker. Nach dem ‚Marder‘ kommt der ‚Leopard‘. Ich bleibe dran.“

Selbst in der öffentlichen Diskussion gibt es nun kein Halten mehr. Schon werden Szenarien diskutiert, deren Umsetzung auf eine offene militärische Auseinandersetzung mit Rußland hinausliefe und die weit über die jetzt beschlossene „Marder“-Lieferung hinausginge. So macht etwa der Militärexperte und Professor an der Münchner Bundeswehr-Universität Carlo Masala kein Hehl daraus, daß in der deutschen Politik nunmehr Hemmungen weggefallen seien, die den deutschen Waffenlieferungen in den letzten Monaten noch Grenzen gesetzt hatten. Darauf müsse jetzt keine Rücksicht mehr genommen werden.

Ab 2004 arbeitete Masala als Research Advisor am NATO Defense College in Rom. Von 2006 bis 2007 war er dort Deputy Director in der Academic Research Branch. Seit Juli 2007 ist er Inhaber der Professur für Internationale Politik an der Universität der Bundeswehr München. Masala ist Mitglied der Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik e. V. (DGAP), einer Denkfabrik für Außenpolitik, die 1955 in Zusammenarbeit mit dem US-amerikanischen Council on Foreign Relations und dem britischen Chatham House (bis 2004 Royal Institute of International Affairs) gegründet worden ist.

Masala spricht Warnungen an, man könne Rußlands „rote Linien“ überschreiten und durch Panzerlieferungen selbst zur Kriegspartei werden. Er hält solche Bedenken nunmehr für überholt: „Dieses ganze Gerede von ‚Putin eskaliert, wenn wir bestimmte Waffensysteme liefern‘, ist jetzt endgültig vom Tisch“; dies öffne nun „die Tür für andere Waffenlieferungen“. Panzer und Flugzeuge seien „die einzige Lösung“.

Bereits zuvor hatte die F.D.P.-Rüstungslobbyistin und Rotarierin Strack-Zimmermann gefordert, die roten Linien des Kreml bewußt zu ignorieren: „Wer von der Sorge fabuliert“, es werde mit bestimmten Waffenlieferungen „eine rote Linie gegenüber Rußland überschritten“, der erzähle „die Geschichte des Aggressors, nicht die der Opfer“, behauptete sie. Ein Beitrag in der „New York Times“ vom 1. Januar, in dem sich ein Experte des International Institute for Strategic Studies (IISS) aus London offen dafür aussprach, Moskaus rote Linien zu mißachten, argumentiert ähnlich: „Rote Linien sind fast immer weich, veränderlich und bedingt“ – man könne sie also getrost ignorieren.

Angesichts der demonstrativen Eskalationsbereitschaft scheinen besonnene Stimmen in der deutschen Politik derzeit in der Minderheit. Eine davon ist der frühere Chef des Bundes-Verfassungsschutzes, Hans-Georg Maaßen. Er warnte in einem Fernseh-Interview am Wochenende: „Wenn wir nicht Verbandspäckchen, sondern Waffen liefern, laufen wir natürlich Gefahr, Kriegspartei zu sein. Das muß man sich vorstellen: Wir sind jetzt Kriegspartei – gegen Rußland.“ „Wir könnten jetzt mit diesen Waffenlieferungen Ziel russischer Angriffe werden. Das bedeutet: Deutschland wird in einen Krieg hineingezogen – ohne daß wir eigene Kriegsziele haben.“

Herr Maaßen vergaß anzumerken, daß „wir“ als Deutsche selbstverständlich keine „Kriegsziele“ haben können, da Kastraten und Heloten stets die Ziele ihrer Herren und Meister mitzuverfolgen haben.

Auch aus Moskau ließ die Reaktion auf die deutsche Entscheidung nicht lange auf sich warten. In einer Erklärung der russischen Botschaft in Berlin vom Freitag wird der Beschluß der Bundesregierung als „weiterer Schritt hin zur Eskalation des Konflikts in der Ukraine“ bezeichnet. Die Botschaft stellt dabei zwar in Rechnung, daß die Bundesregierung offenbar „unter großem Druck aus Washington“ gehandelt habe. Die „Marder“-Lieferungen stellten gleichwohl eine moralische Grenze dar, „die die Bundesregierung hätte nicht überschreiten sollen“. Die Entscheidung Berlins, schwere Waffen an das Kiewer Regime zu liefern, werde „die deutsch-russischen Beziehungen gravierend beeinträchtigen“.

Erst jüngst hatte die frühere Bundeskanzlerin Angela Merkel – selbstverständlich auch ein Mitglied der Atlantik-Brücke – den Beziehungen zu Rußland einen weiteren Tiefschlag versetzt, indem sie Medien gegenüber offen einräumte, das Minsker Abkommen habe nur den Zweck gehabt, der Ukraine mehr Zeit zu verschaffen. Kremlchef Putin hatte dieses Bekenntnis mit spürbarer Betroffenheit kommentiert. Aber es geht offenbar immer noch schlimmer. Die Bundesregierung hat es dieser Tage aufs neue bewiesen.

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