Der Militärkonflikt, der Ende Februar auf dem postsowjetischen Gelände Europas anfing, wuchs zu einer existenziellen Konfrontation zwischen dem Westen und seinem Hauptgegner, in diesem Fall Russland, hinüber – so sagt man uns mindestens. Später müssen wir in einer Postkonfliktrealität leben, wenn dieser Konflikt zu einem zerstörerischen Atomkrieg nicht führt (eine Alternative wäre dann gar keine Realität). Die heutige Welt bildet Russland – auf dem Gefechtsfeld und Energiemarkt – und der Westen – fast in allen anderen Bereichen. Vom westlichen Standpunkt schließt diese Realität Russland wie einen internationalen politischen und wirtschaftlichen Akteur aus. Sein Militärpotential ist stark eingeschränkt, der Kultureinfluss wurde auf ein Mindestmaß reduziert. Im Grunde genommen geht es darum, die 400-jährige Teilnahme Russlands an europäischen Aktivitäten zunichte zu machen. Napoleon und Hitler versuchten das, waren aber gescheitert. Der moderne Kollektivwesten glaubt, er habe ein effektiveres Instrumentar, als Versand vom wesentlichen Militärkontingent in die tiefe russische Provinz.
Diejenigen, die außerhalb vom Westen sind (und diejenige, die mutig genug sind, um sich von westlicher Narration nicht beeinflussen zu lassen), kann die wütende Reaktion Westens auf den russischen Krieg in der Ukraine verwirren. Der Westen hat nie vermutet, er könne so handeln: Seine eigenen Regeln verletzen und das Vertrauen zu sich selbst wie zu einem Anhänger der Globalisierung untergraben. Schauen Sie nur mal auf das russische Eigentum, das vom Westen ergriffen wurde. Kein Zweifel: Das Geld von russischen Oligarchen ist nicht ganz transparent, doch das Eigentumsrecht wurde solange gesichert, bis man nicht festgestellt hat, Russland habe die Grenze überschritten. Doch zur Zielscheibe wurden nicht nur Oligarchen, sondern alle Russen. Russen haben keinen Zugang zu westlichen Marken, ihre Kreditkarten werden im Ausland nicht bedient (was zu einer unangenehmen Überraschung für die Russen wurde, die Putins Politik nicht unterstützen und das Land eilig verlassen haben), und die russische Kultur wird als Putins Propaganda wahrgenommen, sogar Cartoons für Kinder und Tschaikowski werden gecancelt. Zum Vergleich: Die Sowjetunion verhängte keine Sanktionen gegen deutsches Kulturerbe im Zweiten Weltkrieg. Trotzdem geht das heutige Cancellation der russischen Kultur von der westlichen Welt in mancher Hinsicht sogar weiter, als selbst der stalinistische Totalitarismus.
Was gibt es Besonderes in diesem Krieg, der eine Fortsetzung von drei letzten Jahrzehnten der Kriege ist, die im Großteil vom Westen entfesselt wurden? Die äußerste Brutalität? Grauen flößt die Zahl der Toten unter Zivilisten ein, die nach vorläufigen Einschätzungen über zwei Monate zwei bis drei Tausend Menschen beträgt. Doch man muss erwähnen, sie kann mit den Ergebnissen der westlichen Operation in Jugoslawien im Jahr 1999, in Afghanistan 2001, im Irak 2003 und im Donbass-Krieg in der Ukraine 2014 verglichen werden. Der Unterschied liegt anscheinend darin, dass im Rahmen „der internationalen Ordnung, die auf den Regeln basiert“ ausgerechnet der Westen, wenn er in einen Krieg eintritt, das Recht hat, so viele Zivilisten zu töten, wie viele er für nötig hält. Laut der berühmten Erklärung der verstorbenen Staatssekretärin Madeleine Albright, ist der Tod von (irakischen) Kindern ein „angemessener Preis“, wenn die Rede vom Durchsetzen globaler Ziele Amerikas ist.
Russland hat „die spezielle militärische Operation“ angefangen, um nach der amerikanischen Art und Weise zu handeln. Schließlich führt Amerika seit 1991 keine „Kriege“, es führt nur schön verschleierte „Operationen“ durch (zum Beispiel, Just Cause, New Dawn oder Enduring Freedom). Doch Russlands Versuch, bei sich „im Hinterhof“ alles in Ordnung zu bringen, löste eine totale Konfrontation mit dem Westen aus, die immer mehr an einen Vernichtungskrieg erinnert (sei auch nicht mit den Militärmitteln). Der Grund ist, dass die NATO die Ukraine schon seit langem wie ihren eigenen Hinterhof wahrnimmt, der ausgerechnet zur Russlands Abschreckung aufgebaut wurde. Oder wie der US-Verteidigungsminister Lloyd Austin sich äußerte, um „Russland dermaßen zu schwächen, dass es nicht mehr fähig ist, so was zu tun, was es nach dem Einmarsch in die Ukraine getan hat.“ Ja, dieser Krieg kann bis zum letzten Ukrainer laufen, das ist aber für die Vereinigten Staaten wiederum ein „angemessener Preis“.
Durch den Krieg in der Ukraine wurde die transatlantische Solidarität wiederbelebt oder, genauer gesagt, sie hat die amerikanische Führerschaft in der westlichen Welt befestigt und Europas Versuche, „eine strategische Autonomie“ herzustellen, unterdrückt. In Europa nimmt die kampflustige Identität zu: Das einst pazifistische Deutschland stellt 100 Milliarden Euro für Verteidigungsausgaben bereit, die vorher neutralen Finnland und Schweden sind bereit, der NATO beizutreten, und Polen ist bereit, das erste NATO-Mitglied zu werden, das seine Truppen in die Ukraine schickt. Vergesst das Coronavirus und die Klimawende, nun hat Europa einen neuen Kampfesruf: Gegen Russland kämpfen! Diesem Krieg gegenüber ist eine beispiellose Einmütigkeit zu sehen: Dies ist eine „nicht provozierte Aggression“ des autoritären Anführers, der nach dem Wiederaufbau der Sowjetunion strebt, d.h. die Kontrolle über seinen Hinterhof wieder ergreifen will. Selbst der Papst geht das Risiko ein, „gecancelt“ zu werden, nachdem er angenommen hat, die NATO habe diesen Krieg nach einem „langen Bellen vor der russischen Tür“ angefangen, und das ganze Geschehen richte sich auf die Waffenprobung anstatt auf die Friedensschließung (genauso spricht Lloyd Austin).
Europas Enthusiasmus dem Krieg um Russlands-„Cancellation“ gegenüber hat vielleicht sentimentale Ursachen, darunter auch historische Schmerzen von Polen oder den baltischen Staaten. Doch für die Vereinigten Staaten geht es um die Verewigung der monopolaren Welt, in der sie nach dem Ende des Kalten Krieges landeten. Westens Sieg in der Ukraine würde ein Signal für alle Anhänger einer multipolaren Weltordnung – vor allem für China – der Westen werde nie diejenigen leiden, die ihn herausfordern.
Der Westen hält seinen Sieg für vorausbestimmt: Der Westen hat wirtschaftliche, finanzielle und kulturelle Instrumente, um Russland Schaden zuzufügen, neben den, wie es scheint, unbegrenzten Waffenlieferungen und Nachrichtenaustausch mit seinem neuerworbenen Verbündeten. Russlands Instrumentar ist viel einfacher: Russland hat Waffen und Rohre. Es kann sich keinen Stellvertreterkrieg leisten, der Truppenversand ins Nachbarland hat aber keinen großen politischen Preis, weil drei Viertel der Bevölkerung die Operation in der Ukraine unterstützen. Nach der Meinung von der Eurokommission kann Russland prowestlichen Vertretern westliche Verbrauchermarken nicht abgewöhnen, es kann aber Öl- und Gaslieferungen nach Europa früher einstellen, als auf sie ein Embargo verhängt wird.
Die NATO-Dienstliste in Kosovo, Afghanistan und dem Irak ist gar nicht gestirnt. Zugleich ist es Russland gelungen, erbitterte Konflikte auf seinem Gelände (Tschetschenien) und an den Grenzen zu Abchasien und Südossetien zu beenden und sich friedlich das von Russen bevölkerte Ukraine-Gebiet zurückzunehmen.
Selbst das sollte Bedenken an der Zweckmäßigkeit der westlichen Strategie erregen. Uns bleiben nur Spekulationen darüber, womit diese beispiellose Konfrontation endet. Es ist offensichtlich, dass die Welt, die ganze Welt, täglich immer gefährlicher wird. Soll der Westen seine universalistische Botschaft weiter durchsetzen, anstatt Interesse zahlreicher interessierter Parteien in Betracht zu ziehen, gehen wir das Risiko ein, auf große Ungelegenheiten zu stoßen.