Von Beschwichtigern, Vertuschern und Selbstmordraten

Wie fragil Gefallenen-Statistiken des US-Militärs sind und was sich hinter ihnen verbirgt

„Es ist nichts so fein gesponnen, es kommt doch ans Licht der Sonnen.“

Deutsches Sprichwort

An einer weißen Wand aus Alabama-Marmor befinden sich – wie an Perlenketten aufgereiht – zu Grau verblaßte, ursprünglich schwarz eingesprühte Sterne. Eingerahmt werden sie von zwei Fahnen: der US- und der CIA-Flagge. In goldener Versalschrift prangt über den Sternen ein Spruch: „Zu Ehren der Mitglieder der Central Intelligence Agency, die ihr Leben im Dienste ihres Landes gegeben haben.“

von-beschwichtigern
Die CIA Memorial Wall ist seit Juli 1974 eine Gedenkstätte im Hauptquartier der Central Intelligence Agency in Langley, Virginia. Das Ehrenmal soll an jene Mitarbeiter erinnern, die in Ausübung ihres Dienstes ihr Leben ließen. Die Gedenkstätte befindet sich an der Nordwand der Lobby im Hauptquartier.

Laut der Seite cia.gov, aufgerufen am 15. Juni 2023, sind es „140 Sterne, die in den Marmor der CIA-Gedenkmauer gehauen sind“. Die englischsprachige Wikipedia-Seite zum Eintrag „CIA Memorial Wall“ – zuletzt bearbeitet am 14. Juni 2023 – nennt ebenfalls 140 Sterne. Wer allerdings dem Verweis zur Quelle folgt, findet auf der Seite cia.gov eine Meldung vom 23. Mai 2022, wonach an der Gedenkmauer 139 Sterne eingraviert sind. Auf der deutschsprachigen Wikipedia-Seite ist – Stand 25. Mai 2022 – im Text ebenfalls von 139 Sternen die Rede.

Wie das Portal de.topwar.ru Anfang Juni 2023 unter Verweis auf Experten mitteilte, hätten sich etwa einen Monat zuvor auf der Ehren- und Gedenktafel tatsächlich 139 Sterne befunden. Das gibt Anlaß zu Spekulationen. Wer ist der 140., in Ausübung seines Dienstes ums Leben gekommene CIA-Mitarbeiter? Die US-amerikanischen Medien jedenfalls halten sich im Hinblick auf den Ort, an dem der Mitarbeiter zu Tode kam, bislang bedeckt. In jedem Fall liegt die Schlußfolgerung nahe, daß der CIA-Angehörige erst vor kurzem gestorben ist.

Topwar.ru zufolge kursieren im Netz Versionen, wonach der Mitarbeiter in der Ukraine, genauer in Kiew, infolge eines russischen Angriffs auf den ukrainischen Militärgeheimdienst (HUR) getötet worden sein könnte. Ein solcher Schlag wurde tatsächlich ausgeführt, und in der Nacht zum 1. Juni erfolgte laut Berichten ein zweiter Schlag auf den Komplex der ukrainischen Hauptnachrichtendirektion.

Überhaupt war die Tätigkeit von Institutionen der Vereinigten Staaten in der Ukraine vor gar nicht allzu langer Zeit in dichte Nebelschleier gehüllt. Eine gewisse Aufklärung brachten im April geleakte Dokumente des Pentagon. Ihnen zufolge hielten sich in der Ukraine 97 Angehörige von Spezialkräften auf, unter ihnen 50 aus Großbritannien und 14 aus den USA. Darüber hinaus agierten zu diesem Zeitpunkt 29 Vertreter des Pentagon und 71 Beamte des US-Außenministeriums auf ukrainischem Territorium.

Wie John Kirby, Sprecher des Nationalen Sicherheitsrats im Weißen Haus, eilig betonte, schütze eine „kleine US-Militärpräsenz“ die Botschaft und überwache Waffenlieferungen und weitere Unterstützung zugunsten der Ukraine. Im Gespräch mit Fox News erklärte Kirby zudem, daß Truppen der USA „nicht auf dem Schlachtfeld“ kämpften.

von-beschwichtigern
John Kirby (* 1963 in Saint Petersburg/Florida), ehemaliger Konteradmiral der United States Navy, war von April 2015 bis Januar 2017 Pressesprecher des US-Außenministeriums. Von Januar 2021 bis Mai 2022 war er Sprecher des US-Verteidigungsministeriums. Seither ist er Kommunikationsdirektor des United States National Security Council.

US-Bürger bereitete Trainingsprogramme vor – nur Spitze des Eisbergs?

US-Bürger kämpften dort aber augenscheinlich schon. Zumindest kam ein Staatsangehöriger der USA im Mai auf ukrainischem Boden zu Tode. Dabei handelte es sich um einen 45-jährigen, aus dem Bundesstaat Idaho stammenden Mann, der in seiner aktiven Zeit in einer Spezialeinheit, den Green Berets, gedient hatte. Er war Anfang Mai 2022 in die Ukraine eingereist, um dort Trainingsprogramme für ukrainische Territorialverteidigungskräfte vorzubereiten. Einem Bericht von CNN zufolge wurde er in Bachmut infolge von Artilleriebeschuß getötet.

Daraus ergibt sich fast schon zwangsläufig die Frage, ob es sich hier um die vielzitierte Spitze des Eisberges handelt, oder anders ausgedrückt: Sind im aktuellen Krieg noch weitere frühere Angehörige der US-Streitkräfte im Einsatz? Die Zeit wird vielleicht auch hier die entsprechende Aufklärung bringen...

"Killed by friendly fire"

In anderer Hinsicht ist sie bereits erfolgt, wobei auch hier der Aspekt der Intransparenz zunächst recht fröhliche Urständ feierte. Und zwar geht es um die Todesberichte der U.S. Army. Der wohl prominenteste Fall betraf den ehemaligen American-Football-Star Pat Tillman, der sich nach den Anschlägen vom 11. September 2001 freiwillig zum Militär gemeldet hatte. Er kämpfte als Stabsgefreiter des 75. Ranger-Regimentes in Afghanistan, wo er im April 2004 umkam. Die offizielle Version lautete: Tillman (der mit einem Orden geehrt wurde) sei durch einen Bombenanschlag getötet worden. Wochen später kam die Wahrheit ans Licht: Der Soldat wurde aus Versehen von eigenen Kameraden erschossen. Die Mutter des Getöteten, Mary Tillman, übte im Gespräch mit der Deutschen Welle (DW) heftige Kritik: „Man hat von Anfang an Dinge vertuscht und uns die Wahrheit verschwiegen.“ Sie bezeichnete das Verhalten der Vorgesetzten als „ungeheuerlich und skandalös“.

von-beschwichtigern
Patrick Daniel „Pat“ Tillman (* 6. November 1976 in Fremont, Kalifornien; † 22. April 2004 in Afghanistan) spielte seit 1998 für die Arizona Cardinals als Safety in der National Football League (NFL). Tillman hatte einen 3,6-Millionen-Dollar-Vertrag bei den Cardinals, doch er trat nach den Anschlägen vom 11. September 2001 für ein Jahresgehalt von 18.000 US-Dollar in die Armee der USA ein und war bei den United States Army Rangers. Während seines Einsatzes begann er, an der Legitimität des Irak-Kriegs zu zweifeln. Er begann vor diesem Hintergrund, ein Treffen mit dem US-kritischen Autor Noam Chomsky zu planen. Dies konnte Pat Tillman jedoch nicht wahrnehmen. Am Abend des 22. April 2004 wurde Tillman durch drei Kopfschüsse getötet. Direkt nach seinem Tod wurde Tillmans Leiche und alle seine persönlichen Gegenstände, darunter sein Tagebuch, verbrannt. – Ein klassischer Fall von Spurenverwischung.

Der Tod des vormaligen Leistungssportlers ist nur einer von vielen Fällen, bei denen die Angehörigen den Eindruck gewannen, im Hinblick auf die Todesursache nicht wahrheitsgemäß informiert worden zu sein. In der Tat kam in der US-Armee bereits seit dem Ersten Weltkrieg durch unsachgerechten Umgang mit Waffen eine überproportional hohe Anzahl von Soldaten ums Leben – Stichwort: „friendly fire“.

Als eine besonders miserabel ausgebildete Armee, die überhaupt nur bei vielfacher materieller Übermacht tätig werden kann, gelten unter Militärhistorikern wie dem Israeli Prof. Dr. Martin van Crefeld die Streitkräfte der Vereinigten Staaten von Amerika. Während des Vietnam-Krieges war „friendly fire“ ein fast schon alltägliches Problem dieser Großmacht-Armee.

Im Falle von Andre Tyson und Patrick McCaffrey, die der kalifornischen Nationalgarde angehörten, vergingen gar zwei Jahre, bis ihre Familien die Wahrheit zu erfahren bekamen. Zunächst gaben die Vorgesetzten an, die beiden seien im Zuge eines Hinterhalts zu Tode gekommen. Doch auch diese Darstellung entsprach nicht den Tatsachen. Wurden Tyson und McCaffrey doch im Juni 2004 von den irakischen Militärangehörigen, die sie ausbildeten, umgebracht.

Untersuchung von Todesfällen

Im August 2006 sah sich die Armee endlich gezwungen, auf die Beschwerden zu reagieren. Sie untersuchte Todesfälle, die sie seit 2001 in Afghanistan, im Irak und weiteren Ländern verzeichnet hatte. Wie die Nachrichtenagentur AP seinerzeit unter Verweis auf ranghohe Militärs mitteilte, betraf dies mehrere hundert Fälle. Laut US-Army-Bericht seien in Afghanistan und im Irak relativ wenige Soldaten von eigenen Kameraden getötet worden. Durch „friendly fire“ fielen demnach auf jenen Kriegsschauplätzen bis 2006 17 Soldaten, was rund einem Prozent der im Untersuchungszeitraum getöteten 1575 Soldaten entspräche. Im Golfkrieg von 1991 sei der Anteil ersichtlich höher gewesen; seinerzeit waren es 17 Prozent.

Doch bleiben wir beim Irakkrieg. Das US-Verteidigungsministerium und das Defense Manpower Data Center (DMDC) – eine Einrichtung, die Daten über US-Militärangehörige speichert – listeten für den von 2003 bis 2011 dauernden Krieg 4616 US-Todesopfer auf. So jedenfalls geht es aus der englischsprachigen Version der entsprechenden Wikipedia-Seite zur „Operation Iraqi Freedom“ hervor. Doch ist die Zahl vermutlich zu niedrig gegriffen. Denn wie „Die Tageszeitung“ (taz) am 25. März 2008 unter Berufung auf die Netzseite icasualties.org berichtete, kamen seit Beginn der US-Invasion im März 2003 im Schnitt pro Tag zwei US-Soldaten ums Leben. Auf fünf Jahre hochgerechnet, starben also zwischen März 2003 und März 2008 etwa 3650 US-amerikanische Militärangehörige. Daraus ergibt sich ein Jahresdurchschnitt von 730 Getöteten. Wird dieser rechnerisch (!) beibehalten, kommen für die folgenden drei Jahre (also bis zum Ende des Krieges im Jahre 2011) noch einmal 2190 getötete US-Soldaten hinzu, woraus sich eine Gesamtzahl von 5840 ergibt.

Gewiß handelt es sich hierbei um Spekulation, doch auch hier sind – schon wegen der oben erwähnten Intransparenz bei den Todesberichten – Zweifel an den offiziellen Verlustlisten angebracht.

Der "Kampf nach dem Kampf"

Ein weiterer Aspekt betrifft den „Kampf nach dem Kampf“, den viele US-Veteranen führen – und ihn oft verlieren. Es ist der Kampf gegen das im Kriegseinsatz Erlebte. „Jeden Tag nehmen sich 20 US-Veteranen das Leben“, lautete eine Schlagzeile in der „Neuen Zürcher Zeitung“ (NZZ) vom 11. November 2017. Die Autorin Rita Schwarzer begab sich auf Spurensuche zu einem Thema, das die US-Öffentlichkeit zusehends beschäftigt. Dazu trugen nicht zuletzt die Ergebnisse einer Studie bei, in deren Rahmen 55 Millionen Veteranen-Akten aus den Jahren 1979 bis 2014 untersucht worden waren. Auf die Untersuchung gestützt, kam die Veteranenbehörde im Juli 2016 auf 20 Suizide pro Tag.

Derweil die „Huffington Post“ einen „leichten Rückgang“ konstatierte, gelangte Rajeev Ramchand, ein psychiatrischer Epidemiologe von der Rand Corporation, zu einem gegenteiligen Schluß: Die Suizidrate steigt, die Zahl der Veteranen nimmt ab – eine schlüssige Argumentation, da immer mehr frühere Soldaten, die im Zweiten Weltkrieg, in Korea oder Vietnam kämpften, schlicht und ergreifend sterben. Und noch ein weiterer Aspekt tritt hinzu: Nicht jeder Suizid – und das gilt für alle Selbsttötungen – ist auch als ein solcher erkennbar. Und sich ist auch nicht jeder auf traumatische Kriegserlebnisse zurückzuführen.

Doch auch so sprechen die Zahlen eine deutliche, erschütternde Sprache. Seit der Irak-Invasion vom 20. März 2003 haben die Suizide ehemaliger Armeeangehöriger um 32 Prozent zugenommen. Besonders betroffen: 18- bis 29-jährige Männer. Unter ihnen hat die Zahl der Opfer eine Verdopplung erfahren. Nahezu ein Fünftel erlitt im Nahen Osten Hirnverletzungen, fast ebenso viele posttraumatische Belastungsstörungen (PTSD). Über chronische Schmerzen klagen annähernd 60 Prozent der Irak- und Afghanistan-Heimkehrer und 50 Prozent der älteren Kriegsveteranen.

"Unser Leben verliert die gewohnten Strukturen"

Rita Schwarzer weist zudem auf eine Schieflage in der Medienberichterstattung hin. Während die Leiden jüngerer Veteranen in der US-Medienlandschaft immer öfter thematisiert würden, fielen Suizide von älteren Ex-Soldaten weitgehend unter den Tisch. Tom Berger, Leiter des Gesundheitsausschusses von „Vietnam Veterans of America“ in Silver Spring, Maryland, sucht im NZZ-Gespräch nach einer Erklärung für die Selbsttötungen auch unter älteren Veteranen: „Unser Leben verliert die gewohnten Strukturen, die Kinder fliegen aus, wir kommen in Rente, zum Teil scheitern unsere Ehen – vielleicht auch wegen unseres Drogen- und Alkoholkonsums. Und so holen uns traumatische Erlebnisse der Kriegszeit heute leichter ein als früher.“

Immerhin gibt es Veteranen-Kliniken und Organisationen wie „Vietnam Veterans of America“. Und immerhin ist die Kameradschaft unter den früheren Army-Angehörigen recht groß. Beispielsweise helfen sie sich beim Ausfüllen der Anträge auf Invaliden-Rente. Und hier sind umfangreiche Begründungen zu formulieren. Hilfe bietet auch die Non-Profit-Organisation „Taps“, die Hinterbliebenen von Armeeangehörigen und Veteranen, die Suizid begingen, Unterstützung anbietet.

Auch die aktive Truppe hat mit Suiziden zu kämpfen. Deren Zahl belief sich laut Daten, die am 30. September 2021 veröffentlicht wurden, im Jahr 2020 auf 580. 2019 waren es 504 gewesen. „Corona“ spielte eine gewisse Rolle, bietet aber keine erschöpfende Erklärung für die deutliche Zunahme, wie auch das Verteidigungsministerium zugab. Vielmehr sind in die Analyse auch die anhaltenden Einsätze in Kriegsgebieten, nationale Katastrophen und oft gewalttätige zivile Unruhen einzubeziehen. Zudem habe, wie die Armeeführung erklärte, der Trend im davorliegenden Jahrfünft eher deutlich zugenommen.

Jetzt soll die Selbstmordprävention verbessert werden, wobei die beste Prävention sicherlich in einem geostrategischen Paradigmenwechsel läge: in der Rückkehr zur Monroe-Doktrin.

Titelphoto: In Victor Gillams politischer Karikatur aus dem Jahr 1896 steht Uncle Sam mit einem Gewehr zwischen den pompös gekleideten europäischen Figuren und den Vertretern von Nikaragua und Venezuela in Eingeborenenkleidung. Mit der Monroe-Doktrin begann in den Vereinigten Staaten von Amerika 1823 eine neue Ära der Außenpolitik. Weder wollten sich die USA in die Belange anderer Länder einmischen noch eine solche Einmischung bei sich dulden. Benannt wurde sie nach dem 5. Präsidenten der USA, James Monroe, der die Doktrin am 2. Dezember 1823 in einer Rede zur Lage der Nation verkündete. Die Doktrin diente als Rechtfertigung des US-amerikanischen Imperialismus in der (lediglich) westlichen Hemisphäre.

ОК
Im Interesse der Benutzerfreundlichkeit verwendet unsere Internetseite cookies.