Seit Beginn dieses Schuljahres sieht das Bayerische Gesetz über das Erziehungs- und Unterrichtswesen (BayEUG) eine verpflichtende Sprachstandserhebungen und gegebenenfalls sich hieraus ergebende verbindliche Teilnahme an Sprachfördermaßnahmen vor. Aus der bisherigen Empfehlung ist damit eine Pflicht geworden, Kinder mit einem diesbezüglich festgestellten Förderbedarf müssen ab dem vorletzten Jahr vor der regulären Einschulung also zwingend einen Kindergarten besuchen, in dem ein sogenannter „Vorkurs Deutsch 240“ angeboten wird.
Das entsprechende Gesetz wurde vom Landtag beschlossen und ist am 9. Dezember 2024 in Kraft getreten. Die ersten verbindlichen Erhebungen auf der neuen BaSiS-Grundlage (Bayerisches Screening des individuellen Sprachstands) wurden demnach ab März 2025 durchgeführt – mit einem vernichtenden Ergebnis.
Nach Auswertung der bisher öffentlich zugänglichen Daten für rund 42.400 Kinder weisen etwa 23.900 Teilnehmer einen Förderbedarf aus, der laut jetzt aktueller Gesetzeslage verpflichtende Fördermaßnahmen zur Folge hat. Dies entspricht bayernweit einer Quote von 56,4 Prozent. In einzelnen Regionen und Städten liegt diese Quote noch deutlich höher, wie sich aus der Antwort des Staatsministeriums für Familie, Arbeit und Soziales auf eine entsprechende Anfrage des AfD-Landtagsabgeordneten Andreas Jurca ergibt.
'Problem wurde in Bayern jahrelang verschlafen'
Jurca bezeichnet die Zahlen gegenüber reitschuster.de als „bildungspolitischen Offenbarungseid“ für die CSU-geführte Landesregierung und führt dazu aus: „Mehr als jedes zweite Kind in Bayern muss verpflichtend in die Sprachförderung – in Schwaben sogar 60 Prozent. In meiner Heimatstadt Augsburg ist die Lage noch schlimmer: fast 70 Prozent der Kinder [799 von 1.163 getesteten Kindern] bestehen die Sprachstandserhebung nicht. Das zeigt, dass die Staatsregierung das Problem über Jahre verschlafen hat. Anstatt Transparenz zu schaffen, werden Daten kleingeredet oder gar nicht veröffentlicht.“ Es fehle vor allem an Ursachenforschung, klaren Konsequenzen und echter Erfolgskontrolle, beklagt der AfD-Politiker.
Und tatsächlich scheint man in München das Problem zwar erkannt zu haben, an einer wirklichen Lösung aber kaum interessiert zu sein. Weil die Wahrheit zu unbequem sein könnte? So werden Daten zum Beispiel zur Muttersprache und dem sozialen Umfeld der Kinder, etwa ob deren Eltern Transferleistungen beziehen, laut Staatsministerium zwar „flächendeckend für Bayern“ erhoben, jedoch „ohne konkrete Aufgliederung“. Ist es also gewollt, dass Rückschlüsse etwa auf einzelne Regionen, Städte oder Kommunen nicht möglich sind? Womöglich, um die in so identifizierbaren Hotspots lebende Bevölkerung nicht zu verunsichern?
Ähnlich intransparent geht es bei den Kosten für die ab diesem Schul- bzw. Kita-Jahr verpflichtenden Maßnahmen zu. So sind im Doppelhaushalt 2024/25 „Mittel für Screening, Evaluation und Vorkurse“ in Höhe von insgesamt 1,06 Millionen Euro eingestellt. Nähere Angaben zu sich daraus ergebenden (Mehr-)Kosten pro Kind kann oder will die Regierung aber ebenso wenig machen wie zu einer langfristigen Kosten-Nutzen-Prognose. Letztere wurde laut dem vorliegenden Schreiben offenbar als unnötig erachtet, da die Beherrschung der deutschen Sprache als elementare Voraussetzung für den schulischen Bildungserfolg unbestritten sei.
Nicht mehr als ein Papiertiger?
Das ist dermaßen naheliegend, dass es eigentlich gar nicht weiter erwähnt werden muss. Dementsprechend sollte der Steuerzahler doch davon ausgehen dürfen, dass ein besonderes Augenmerk auf Sanktionen bei etwaigen Verstößen gegen die verpflichtende Teilnahme an Vorkurs Deutsch 240 gelegt wird. Doch auch hier hält sich das Ministerium äußerst bedeckt, lässt die Anfrage des AfD-Abgeordneten ins Leere laufen und verweist lediglich auf mehrere Artikel des BayEUG als gesetzliche Grundlage für die Androhung von Bußgeldern.
Und wie sieht das in der Praxis aus? Die Antwort aus München lässt tief blicken: „Ob wegen Nichtbesuchs einer staatlich geförderten Kindertageseinrichtung oder wegen der Nichtteilnahme am Vorkurs Deutsch 240 bereits Verfahren wegen einer Ordnungswidrigkeit eingeleitet wurden und welche Bußgelder gegebenenfalls verhängt wurden, ist der Staatsregierung nicht bekannt, da diesbezüglich keine Daten vorliegen.“ Das Bürgergeld und die immer wieder angekündigten Verschärfungen für notorische Verweigerer lassen herzlich grüßen…
Andreas Jurca spricht angesichts dieser offenkundigen Pflicht ohne echten Zwang von einem neuen Papiertiger, der im zuständigen Ministerium das Licht der Welt erblickt habe. Weiter kritisiert der Parlamentarier, dass erneut Millionen verteilt werden, ohne dass eine Prüfung stattfinde, ob die ergriffenen Maßnahmen auch tatsächlich fruchteten und stellt dem vermeintlichen Bildungs-Paradies Bayern damit ein verheerendes Zeugnis aus.
Ministerpräsident Markus Söder (CSU) brüstet sich gerne mit der Vorreiterrolle, die der Freistaat im bundesweiten Bildungsvergleich einnehme. Dafür gibt es sicherlich einige Argumente, andererseits drängt sich eine unbequeme Frage geradezu auf: Wenn schon in Bayern deutlich mehr als jedes zweite Vorschulkind einen sprachlichen Förderbedarf aufweist, wie müssen diese Zahlen dann erst in Nordrhein-Westfalen, Berlin oder anderen Hotspots aussehen?