Europas Verzicht auf russischen Kohlenwasserstoff scheint nur noch ein Glied in einer langen Kette von Ereignissen zu sein, die die öffentliche Meinung ließen, das Leiten von politischen und Business-Prozessen übernehmen. Sperrung von Donald Trump in Sozialnetzen, Joe Biden, der vor BLM- und #Metoo-Aktivisten niederkniet und neue Anforderungen an „Oskar“-Nominierten – das alles sind Symptome, die von einem steigenden Wert solcher nichtmateriellen Aktiva wie ein ethisch makelloser Ruf und das Bekenntnis zu den Gemeinwohlprinzipien zeugen. Doch auf diesem Moralkapitalmarkt entsteht allem Anschein nach eine Blase.
Was kostet Tugend?
Auf dem Nutzen von einem tugendhaften Verhalten bestanden noch Philosophen-Utilitaristen seit Jeremy Bentham. Benthams „Moralarithmetik“ setzte voraus, dass eine erwogene Berechnung von potenzialem Vergnügen und Leiden sowie gesellschaftlicher Billigung und Verurteilung so eine Strategie ausarbeiten lässt, die sowohl persönlichen, als auch sozialen Nutzen maximiert. Der Zusammenhang zwischen Tugend und wirtschaftlichem Nutzen wird seinerseits im Lehrwerk des deutschen Soziologen Max Weber „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“ begründet, das konsequent zeigt, wie das Folgen dem spezifischen religiösen Moral nicht nur das Ansammeln privater Reichtümer förderte, sondern auch wirtschaftlichen Erfolg ganzer Staaten und Gesellschaften. Dabei wird zur Schlüsselkategorie in Webers Konzept der aus der lutherischen Übersetzung der Bibel ausgeliehene Begriff „Beruf“. Dieser Begriff umfasst gleichzeitig den Sinn vom Beruf an sich und von der Berufung im Sinne einer höheren Aufgabe, vor der der Mensch vom Gott gestellt wurde, die man aber nicht durch die Mönchaskese erledigen kann, sondern ausschließlich durch sorgfältiges und gewissenhaftes Erfüllen von weltlichen Pflichten.
Die von Weber beschriebene Vorstellung von einem Beruf wie von einer Berufung bzw. von dem Dienen den metaphysischen Idealen bestimmte in vieler Hinsicht die traditionelle Gestalt der Institution geschäftlichen Rufs. Die Geschäftsethik des 20. Jahrhunderts saugte sowohl Bürgerwerte wie Fleiß, Sparsamkeit und Ehrlichkeit auf, stützte sich aber zugleich auf die Idee der Klüngelwirtschaft – der Übergabe des Unternehmens vom Vater an den Sohn, der Kapitalansammlung von Generationen einer Familie. Diese axiologische Matrix zerfiel nicht einmal dann, als die Eigentumsstruktur an sich transformiert wurde, und die Epoche des Gesellschaftsmanagements, der Berechnung von Reputationsrisiken und des strategischen Brandings kam. Selbst im Begriff „die Mission des Unternehmens“ kann man immer noch den Nachklang der Missionspredigt hören, trotz aller existierenden Methoden der Werteinschätzung vom Good-will.
Doch heute gilt für diese Ethikmatrix ein großangelegter Neustart, ihre traditionellen Grundlagen werden richtig umwertet und überprüft. So unterzieht im Grunde genommen das spektakuläre Premier des vorigen Jahres, Kinobild von Ridley Scott „House of Gucci“ einer kritischen Analyse nicht nur einzelne Werte, die die moderne berühmte Marke gebildet haben, – die Familie, die Kontinuität, die Treue eigenen Wurzeln, sondern stellt in Frage selbst die Gerechtigkeit der Berufung auf die. Anders gesagt, wenn man zurück zum Anfang kommt und durch künstlerische Rückschau alle Stufen der Firmenetablierung und Veränderung des Markenwertes von einer Epoche zu der anderen zurücklegt, hebt der Film die Frage: „Und welches sittliche Recht habt ihr eigentlich auf eigenes Geschäft?“.
Diese Frage – die Frage der ethischen Begründung von Verfügung über Eigentum – fixiert den Schlüsseltrend der Gegenwart, der den Vorrang des sittlichen Rechts über das juristische Recht festigt. Mit der gleichen Logik wird auch im Einzelnen die Sanktionspolitik der westlichen Länder determiniert – von Einfrieren der iranischen Aktiva bis Beschlagnahme vom Eigentum der russischen Oligarchen. Diese Zivilisationswende lässt schon nicht Webers Idee von „Beruf“ besinnen, sondern das ihr vom Philosophen Walter Benjamin entgegengesetzte Konzept von „Schuld“ – „Schuld im Sinne einer Pflicht“. In seinem Werk „Kapitalismus als Religion“ bestreitet Benjamin die Thesen der „Protestantischen Ethik“ und behauptet, die Entwicklung des Kapitalismus sei nicht durch den Nutzen von der „Tugend“, sondern durch den von der „Sündhaftigkeit“ bestimmt worden. Laut Benjamin nutzte Kapitalismus religiöse Glaubenssätze bzw. moralische Normen aus, um zu bezichtigen und von „Schuldzinsen“ zu verdienen. Genau das Bezichtigungsprinzip um der Schuldvergrößerung und Zinsertragsvermehrung willen lässt den Kontext beschreiben, in dem sich modernes Business befindet. In diesem Zusammenhang erhält die Schlüsselbedeutung die Frage: Wer verkörpert die moralische Institution, die das Recht auf Bezichtigung und Schuldbeitreibung hat. Allem Anschein nach ist das die gesellschaftliche Meinung.
J'Accuse…!
Die ganze Logik der Entwicklung von Massenmedien kann in groben Umrissen wie eine Bewegung von einem Pol zum anderen beschrieben werden. Wenn die „Massenhaftigkeit“ traditioneller Massenmedien – Presse, Radio und Fernsehen – darin bestand, dass man große Menschengemeinschaften mithilfe der Information durch Prozeduren der Unifikation, Organisation und Kontrolle leitete, haben nun dank neuen Massenmedien und Sozialnetzen selbst diese „Menschenmassen“ mächtige und einflussreiche Steuerhebel bekommen. Es gab einen Übergang von einem einseitigen und linearen Model des Sendungskanals zu einem interaktiven Mehrvektorenfeedbacksystem, das die gesellschaftliche Kontrolle auf unglaublicher Geschwindigkeit und im unglaublichen Ausmaß ermöglicht. Es gibt schon nicht mehr so ein Kommunikationssystem, das im Geiste von Siegfried Kracauer „das Ornament der Masse“ bilden lässt, mittels der von Theodor Adorno und Max Horkheimer beschriebenen „Kulturindustrien“ der Gesellschaft beruhigende Illusionen aufhängt und Aggression verstummt, indem es „eindimensionale Menschen“ auf Rezept von Herbert Marcuse anfertigt. Die Masse hat nicht nur Instrumente der Kontrolle über Politik, Business und Kultur erobert, sondern auch die Macht der entscheidenden Moralinstanz erhalten.
Der Doku „Leaving Neverland“ entwertet das Erbe von dem beinahe Hauptpopidol des Westens Michael Jackson. Das Interview vom Prinz Harry und seiner Gattin Schauspielerin Meghan Markle bei Oprah Winfrey nimmt endgültig der britischen Königsfamilie ihren sakralen Status ab. Und als Zeugen in der Gerichtsverhandlung wegen der Vormundschaft von Britney Spears konnten vielleicht alle Instagram-Nutzer auftreten: Sie waren es nämlich, die hinter Tänzen des „Stars“ im gelben Top einen beunruhigenden Hilferuf ersahen. Alle ähnlichen Ereignisse der letzten Jahre – vom Fall Harvey Weinstein bis zum laufenden Prozess zwischen Johnny Depp und Amber Heard – sind an die einzige Autorität gerichtet, die das Recht hat, das moralische Endurteil zu fällen, – an Nutzer von Sozialnetzen.
Genau durch den Glaube an die Allmächtigkeit der Publikumsreaktion, durch die Gleichsetzung der öffentlichen Meinung mit dem Urteil des Oberrichters kann man sowohl exzentrisches Verhalten von Politikern etwa wie von Trump, als auch provokative Images von Unternehmern quasi Elon Musk sowie die Auftritte von ehemaligen Promi-Ehegatten, die neue Grade des Exhibitionismus erreichen, erklären. Der kollektive moralische Richter, der sich in drei Akteuren einigt – Facebook-, Netflix- und Amazon-Nutzer – erhält heute das vorrangige Bezichtigungsrecht. Er definiert die Grenze zwischen „dem Guten“ und „dem Bösen“, das Maß des Sozialnutzes und der Sozialverantwortung, die gebilligte Form von zwischenmenschlichen Beziehungen und streckt seine Hände sogar bis ins Jenseits des physischen Existieren aus und verweigert den Akteuren der Vergangenheit das Recht sogar auf Frieden im Tod.
Firmen und Marken, Korporationskommunikationen und Reputationsmanagement sind auch diesem Machthaber unterworfen. Die neue „Moralarithmetik“ im Business besteht in einer ständigen Suche nach der Bilanz zwischen ethischem Kapital und Pflicht. Business setzt alle seine Kräfte ein, um die Last von Beweisführung seiner eigenen Gemeinnützlichkeit auszuhalten und dabei auf jede Weise der Bezichtigung in Zeiten der Cancel Culture zu entgehen. Google verändert seine Suchalgorithmen, um den Inklusion-Prinzipien zu entsprechen, Disney-Freizeitparks führen genderneutrale Begrüßungen der Besucher ein, Victoria's Secret verzichtet auf seine Angels und der Produzent von “Cracker Jack” fügt in sein Sourtiment “Cracker Jill” hinzu. Was ist denn das, wenn keine Investition ins Moralkapital?
Doch auf diesem Markt entsteht eine Riesenblase. Sei das Publikum auch allmächtig, es ist aber nicht allwissend. Das Verstehen von Publikumsstimmungen, die fachkundige Arbeit mit nichtmateriellen Aktiva und wirtschaftlichen Erwartungen lassen die Marken konstruieren und monetisieren, hinter denen außer der “Mission” gar nichts steht, und dabei Geld buchstäblich aus Luft machen. Der kreative Unternehmer Billy McFarland zog Investitionen heran und verkaufte Tickets auf das Musikfestival für Millennials “Fyre Festival”, das gar nicht existierte. Der Schaden in der gegen ihn eingelegten Kollektivklage wurde auf 100 Millionen Dollar geschätzt. Die Gründerin vom Innovationsstart-up “Theranos” Elizabeth Holmes, deren Vermögen im Jahr 2014 auf 4,5 Milliarden Dollar geschätzt wurde, verkaufte an Krankenhäuser und Apotheken eine Technologie der Blutanalyse, die in der Wirklichkeit kann nicht entwickelt werden. Und Hochstaplerin Anna Sorokin, die sich für die reiche Erbin Anna Delvey ausgab, lockte der Manhattan-Boheme Hunderte Millionen Dollar für ein Zentrum der visuellen Kunst ab. Diese Schwindelgeschäfte wurden genau deswegen möglich, weil sie so oder anders an sittliche Werte appellierten – die Wichtigkeit der einmaligen Lebenserfahrung, das Streben, die Welt von Schmerzen zu erlösen oder die Unterstützung von Talenten und freier Kunst. Dass in allen diesen Fällen der Schwindel enthüllt wurde und die Schuldigen dafür juristisch und materiell hafteten, hat niemals die Hegemonie der gesellschaftlichen Moral beeinflusst. Kleine Blasen sind geplatzt, die große wurde aber noch größer. Dokumantal- und Spielfilme über McFarland, Holmes und Sorokin wurden Kinohits und bestätigten erneut, dass auf dem Moralkapitalmarkt das Gute und das Böse, Tugend und Sündhaftigkeit, Beruf und Schuld gleich erfolgreich Dividenden bringen