Hunger in Bengalen

„Ich hasse Indianer. Sie sind ein bestialisches Volk mit einer bestialischen Religion,“ Winston Churchill

Bengalen ist kein Land. Dieses historische Gebiet, das im Nordosten von Südasien, in den Flussdelten des Ganges und des Brahmaputras liegt, ist heutzutage zwischen zwei Staaten verteilt: Indien (Westbengalen) und Bangladesch (Ostbengalen). Hier leben hauptsächlich Bengalen, die Bengalisch sprechen. Dies ist eines der zahlreichsten Völker weltweit, das über 250 Millionen Menschen zählt.

Ende des 19.- Anfang des 20. Jahrhunderts war dieses Gebiet unter der Herrschaft von Engländern und stellte ein wirtschaftlich meistentwickeltes Teil des Britischen Indiens dar. 1943 gab es in Bengalen eine humanitäre Katastrophe, an deren Folgen über drei Millionen Menschen starben. Historiker können sich wegen der Ursachen dieser Tragödie immer noch nicht einigen.

Reis steht immer an der Spitze

Reis war immer das Hauptessen der Bengalen. Seine Saat besetzte 88 Prozent des Ackerlandes. Eine gewöhnliche Diät eines Durchschnittsbengalen bestand zu 80 Prozent aus Reis und zu 20 Prozent aus Fisch. Dabei produzierte Bengalen selber vor dem Krieg ein Drittel vom indischen Reis, mehr als jede andere Provinz. Der Jahreszyklus eines bengalischen Ackerbauern hing direkt von der Menge und Qualität der Ernte ab. Laut dem bekannten persisch-bengalischen Geschäftsmann Mirza Ahmad Ispahani, „schmaust der bengalische Bauer drei Monate, ernährt sich mehr oder weniger anständig fünf Monate und hungert vier Monate in Erwartung der nächsten Ernte“. Im Jahr 1943 wurde dieser jahrhundertelang gefestigte Zyklus zerstört.

Flüchtlinge

Im April 1942 eroberten Japaner Birma. Das Bündnisheer zog sich nach Indien zurück. In Bengalen sammelten sich über drei Hunderttausend britische, amerikanische, indische und chinesische Soldaten an. Zusammen mit den Truppen begab sich nach Bengalen eine halbe Million der Flüchtlinge. Weder die Armee, noch die Regierung beschäftigten sich mit deren Unterbringung oder halfen, die Zivilisten mit Lebensmittel zu versorgen. Die Reispreise verdoppelten sich zuerst, später verdreifachten sich sogar. Viele Reisäcker waren mit Militärlagern, Kasernen, Depots, Kampfmaterial- und Flugplätzen belegt. Die Einheimischen wurden von den Stammorten weggehetzt. Man zahlte ihnen zwar für das beschlaggenommene Land, doch ohne Land blieben Bauer auch ohne Ernährung.

Auf der Suche nach Arbeit machten sich Hunderttausende von Menschen auf den Weg nach Kolkata und anderen Großstädten, doch da war es unmöglich, eine Anstellung zu finden. Die meisten Zugereisten wohnten auf der Straße. Männer verließen ihre Familien, weil sie es nicht schafften, sie zu unterhalten, Frauen suchten sich Stellen in Bordellen für Soldaten, wo eine Seance wie eine Schale Reis kostete. Den Straßen entlang standen kilometerlange Reihen von Kindern, die von vorbeifahrenden Soldaten Essen erbaten. Doch Soldaten wurde es bei Todesstrafe verboten, die Einheimischen aufzufüttern.

The Bengal Famine of 1943

Hunger

Und dann reichte Reis nicht mehr. Dazu trug auch der den armen Bengalen in den Schoß gefallene Taifun bei, der die restliche Saat vernichtete. Im Sommer und Herbst 1943 brach das Ganze zusammen. Die Sterblichkeit am Hunger überschritt alle möglichen Grenzen. Leichen lagen direkt auf Straßen herum, und niemand räumte die weg. Eine Epidemie brach aus. Zeugen berichten, dass Kinder auf der Suche nach nicht verdauten Reiskörnern in Abtritten herumwühlten. Menschen tranken Wasser aus Pfützen, das mit menschlichen Lebensspuren vermischt war. Dabei galt in der Presse eine härteste Militärzensur. Journalisten durften nicht, das Wort „Hunger“ in ihren Artikeln zu verwenden. Die Regierung sah einfach darüber weg.

Die Weltgemeinschaft erfuhr von dem Hunger in Bengalen erst Ende August 1943, als der Redakteur der indischen Zeitung „The Statesman“ Jan Stevens das Verbot übertrat und den Artikel „Die allindische Schande“ veröffentlichte, der mit Fotos von Hungernden auf den Straßen von Kolkata versorgt war. Diese Fotos erschienen bald auf Kopfseiten aller weltweiten Massenmedien, und erst dann begann Großbritanniens Regierung Maßnahmen zu treffen, um Hunger in Bengalen zu bekämpfen.

Alles für den Sieg

In Bengalen konnte es zu den Zeiten des Zweiten Weltkrieges so ein Motto natürlich nicht geben. Doch tatsächlich wurde die Zivilbevölkerung im Stich gelassen. Industrie, Transport und Landwirtschaft arbeiteten nur für Armeebedürfnisse. Militärs beschlagnahmten von Bauern alle Transportmittel, einschließlich Boote, auf denen sie fischten. Aus Geschäften verschwunden lebenswichtige Güter. Das ist schwierig zu glauben, doch viele Memoiristiker der Zeit erzählen von einem sogenannten „Stoffhunger“. Viele Menschen hatten nichts, was sie anziehen konnten. Auf eine ganze Familie fiel ein Stofffetzen. Deswegen konnten viele Frauen nicht einmal nach außen gehen, manche begangen sogar Selbstmord, weil sie sich für ihre Nacktheit schämten. Räuber gruben Friedhöfe auf der Suche nach Kleidung aus, zogen Menschen mit Gewalt gleich auf der Straße aus und nahmen ihnen die restlichen abgetragene Kleidungsstücke weg.  Swami Sambudhanand, Präsident der Ramakrishna Mission schrieb im Juli 1943: „Tausende Männer und Frauen können nicht arbeiten gehen, weil es kein Stück Stoff gibt, damit sie es um ihre Gliedmaßen herumwickeln.“ Kleidungpreise verfünffachten sich im Vergleich zu der Vorkriegszeit. Klar hatte die Bevölkerung kein solches Geld.

Zugleich stellte Indien 1942-1943 819 Millionen Yard Baumwollstoff her. Fast das ganze wurde nach Großbritannien ausgeführt und für Militärbedürfnisse ausgegeben. Seide, Wolle, Lederware wurden auch von der Armee gekauft. Im Laufe des Krieges produzierte man allein in indischen Betrieben zwei Millionen Fallschirme und 415 Millionen Militärkleidungsstücke, Ausrüstung und Decken für Soldaten.

The Bengal Famine of 1943

Wer ist schuld?

Man kann natürlich die ganze Schuld auf den Krieg, die Flüchtlinge, den Taifun und die Schwamminfizierung der Ernte abwälzen, doch meiste Experte beschuldigen der Veranstaltung (ja-ja, genau der bewussten Veranstaltung) des Hungers die britische Regierung und Winston Churchill persönlich, der angeblich „eine persönliche Feindseligkeit gegen Indianer“ hegte und wischte ihre Probleme vom Tisch, als ihm davon berichtet wurde. Zeitungen weigerten sich, offensichtliche Probleme zuzugeben, und erklärten den Lebensmittelmangel durch Umtriebe der Spekulanten und „gewissenloses Handeln von Privatunternehmen“.

1944 gründete das britische Gouvernement von Indien eine spezielle „Hungerkommission“, die seine Entstehungsursachen aufklären  und die Schuldigen, wenn sich welche davon finden, bestrafen sollte. Sie wurde von John Woodhead geleitet, dem ehemaligen Beamten des indischen Staatsamtes in Bengalen. Die Kommission führte eine Reihe der Ermittlungen durch und kam zum Schluss, dass da keine Schuld der britischen Regierung gibt, sondern ein einfaches „Zusammentreffen der fatalen Umstände“. Die bengalische Verwaltung mussten sie doch rügen. In dem von der Kommission veröffentlichen Bericht stand: „Nachdem wir alle Umstände betrachtet haben, können wir nicht umhin, zum Schluss zu kommen, dass die Regierung von Bengalen hätte durch das rechtzeitige Ergreifen von tapferen, entschlossenen und tüchtig durchdachten Maßnahmen in bedeutendem Maße der Tragödie des Hungers in der Form, wie es sie tatsächlich gab, vorbeugen müssen.“

Folgen

Das bengalische Massensterben am Hunger im Jahr 1943 beeinflusste ohne Zweifel die politische Lage in Indien und spielte eine wichtige Rolle darin, dass die indische Gemeinschaft der Notwendigkeit ihrer Selbstverwaltung bewusst wurde. Das indische Volk überzeugte sich mit eigenen Augen davon, dass sich die Metropole im Angesicht des britischen Gouvernements nur um die Lösung eigener Probleme kümmert. Progressive Menschen Indiens bestärkten sich noch mehr in ihrer Entschlossenheit, um Unabhängigkeit zu kämpfen. Die Indische Nationalarmee wurde zahlreicher, die Quit-India-Bewegung unter der Führung von Mahatma Gandhi gewann an Stärke. So wurde die bengalische Tragödie noch ein Schritt auf dem Wege zum 15. August 1947, als Indien sich unabhängig machte.

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