Das (Alt-)Parteiensystem der BRD ist zwar noch nicht in sich zusammengefallen, doch sichtbare Risse hat es bereits. Dazu trug nicht allein die AfD bei, der – im Osten der Bundesrepublik – ein gewisser Einbruch in die schier uneinnehmbare Festung der Nichtwähler sowie in die scheinbar festgefügten Wählerreservoirs von Linkspartei, CDU und SPD gelang.
Parallel dazu vollzog (und vollzieht) sich ein Prozeß, der v. a. für Menschen, die auf dem Lande leben, unmittelbar spürbar ist, ja, der von vielen sogar aktiv mitgestaltet wird. Beispiel Thüringen. Im Juni 2022 kam der MDR (Mitteldeutscher Rundfunk) mit Blick auf die gerade in 318 Orten stattgefundenen Bürgermeisterwahlen nicht umhin, festzustellen: Bei diesen Urnengängen „hat die große Stunde der Einzelbewerber, Wählervereinigungen und kleineren Parteien geschlagen. Sie stellen in Thüringen rund 76 Prozent der neu gewählten Amtsträger.“ Die CDU erreichte 20 Prozent, SPD und Linke jeweils kümmerliche ein bis zwei Prozent, was der MDR mit dem Satz „Etablierte Parteien spielten keine große Rolle“ kommentierte.
Für Nordrhein-Westfalen (NRW) hielt die Deutsche Presse-Agentur (DPA) bereits 2019 einen klaren Trend hin zu parteilosen Bürgermeistern fest. In Zahlen ausgedrückt, hieß dies: Von 380 NRW-Kommunen hatten 88 parteiungebundene Stadtoberhäupter. 20 Jahre zuvor waren es 50, 2009 bereits 61. Ihre Fortsetzung fand die Entwicklung dann im September 2020 bei den Kommunalwahlen. So konnten von den durch die CDU nominierten Kandidaten zwar 175 die Bürgermeisterwahlen gewinnen (46,1 Prozent), waren es bei der SPD 103 Bewerber, die den Sprung an die Rathausspitzen schafften. Doch folgten ihnen (von keiner Partei oder Wählergruppe aufgestellte) 71 Einzelanwärter, die fortan Bürgermeisterämter bekleiden durften. Unter der Rubrik „Sonstige“ rangierten zum einen die Grünen (zehn Wahlsieger), zum anderen aber auch elf von Wählergruppen nominierte Wahlgewinner. Gegenüber 2014/15 verzeichneten die Einzelbewerber ein Plus von 4,3 Prozent, die CDU ein Minus von 6,4 Prozent. In Gemeinden unter 20.000 Einwohnern liegt der Anteil der Einzelbewerber zudem deutlich über den von der SPD nominierten Bürgermeistern. Erstere machen um die 25 Prozent aus, Zweitgenannte etwa 18 Prozent.
In anderen Regionen bietet sich ein ähnliches Bild. So waren 2017 in Mecklenburg-Vorpommern bereits rund 60 Prozent der Bürgermeister parteilos.
Wie ein Rucksack
Doch welche Gründe sind für diese Entwicklung maßgeblich? Bernd Jürgen Schneider, bis 2020 Hauptgeschäftsführer des Städte- und Gemeindebundes NRW, bezeichnete die Kommunalwahlen in einem 2019 mit der DPA geführten Gespräch als „Persönlichkeitswahlen“ – das waren sie aber schon immer. Schwerer wiegt da schon ein weiteres Argument Schneiders. So könne bei Partei-Kandidaten die Zugehörigkeit zu einer etablierten Kraft wie ein Rucksack wirken. Schneider wörtlich: „Parteigebundene Bürgermeisterkandidaten werden dann mit der Bundespolitik in einen Sack gesteckt. Für die freien Bewerber ist das ein Vorteil.“
Bereits 2011 konstatierte „Der Bürgermeistertag“, die jährliche Tagung der in Deutschland tätigen parteiungebundenen Gemeindevorsteher, in einer Pressemitteilung: Die Parteilosen fühlten sich ausschließlich den Bürgerinnen und Bürgern – und eben keiner Parteiräson – verpflichtet. Ganz offensichtlich trauen weite Teile der Bevölkerung den Politikern immer weniger zu, der Kommune und der Partei gleichermaßen zur vollsten Zufriedenheit dienen zu können. Hinzu gesellt sich eine zunehmende Verärgerung über parteipolitische Grabenkämpfe und politischen Filz, woraus weniger eine Politik-, dafür aber umso mehr eine Parteienverdrossenheit resultiert. Für den Politikwissenschaftler Hans-Georg Wehling (1938-2021) war bereits „die Wahlempfehlung einer Partei für einen Kandidaten ziemlich tödlich“. So jedenfalls tat er es schon 2011 gegenüber dem Südkurier (Konstanz) kund.
Prof. Dr. Hans-Georg Wehling (* 4. Januar 1938; † 7. Oktober 2021), ein deutscher Germanist, Historiker und Politologe, war Vorstandsmitglied im Europäischen Zentrum für Föderalismusforschung an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen und Honorarprofessor mit den Schwerpunkten Landeskunde, Landespolitik und Kommunalpolitik am dortigen Institut für Politikwissenschaft.
Ein weiteres beredtes Beispiel für das Abbröckeln des althergebrachten Parteiensystems liefert Bayern. Dort sind fast 50 Prozent aller Gemeinde- und Stadträte parteifrei. Wählergemeinschaften, die sich als Alternative zu den Etablierten verstanden, gab es im Freistaat bereits in den fünfziger Jahren. Aus den vielen kleinen Bächlein ist mittlerweile ein großer Strom geworden. Sein Name: FREIE WÄHLER.
2008 erreichten sie bei den bayerischen Landtagswahlen aus dem Stand heraus 10,2 Prozent und 21 Mandate, womit sie zur drittstärksten Kraft hinter CSU und SPD avancierten. 2013 gab es für „die ausgleichende und stabile Kraft der bürgerlichen Mitte“, so das Selbstzeugnis, glatte neun Prozent, ehe sie bei der 2018 durchgeführten Wahl zum Landesparlament 11,6 Prozent und damit ihr bisher bestes Ergebnis verbuchen konnte. Dabei erlangte sie sogar Teilhabe an der Macht.
Mit Hubert Aiwanger, einem Diplom-Agraringenieur aus Landshut (Niederbayern), stellen die Freien Wähler im Kabinett Söder II den stellvertretenden Ministerpräsidenten und den Staatsminister für Wirtschaft, Landesentwicklung und Energie. Mit Prof. Dr. Michael Piazolo (Unterricht und Kultus) und Thorsten Glauber (Umwelt und Verbraucherschutz) gehören zwei weitere Minister der Söder-Regierung den Freien Wählern an. Nach eigener Aussage besteht die Hochzeitsurkunde, sprich der Koalitionsvertrag, zu etwa 40 Prozent aus Themen, die der noch junge Stern am Polithimmel Bayerns für maßgeblich hält. Wie aus der Netzseite fw-bayern.de hervorgeht, wurden davon im ersten Jahr der Regierungsbeteiligung mehrere in die Praxis umgesetzt, so ein Gründerbonus für Hebammen in Höhe von 5.000 Euro, die Wiedereinführung des Handwerksmeisters, die Abschaffung der Straßenausbaubeiträge plus die Einführung eines Entschädigungsfonds, die Gründung eines eigenen Wasserstoffzentrums für Bayern, aber auch ein staatliches Programm zur Erhaltung von Wirtshäusern, mehr unbefristete Lehrerstellen sowie eine Personalaufstockung der Polizei.
Der Dipl.-Landwirt Hubert Aiwanger (* 26. Januar 1971 in Ergoldsbach, Landkreis Landshut, Niederbayern) ist bayerischer Wirtschaftsminister und stellvertretender Ministerpräsident sowie Parteivorsitzender der FREIEN WÄHLER.
Die FREIEN WÄHLER Bayerns verfügen über 960 Orts- und Kreisverbände mit zirka 41.000 Mitgliedern.
Tätig an der Bürgerfront
In der politischen Landschaft Sachsens ist in den vergangenen Jahren gleichfalls einiges in Bewegung geraten. Viele Menschen stört dabei nicht, daß die am 26. Februar 2021 in Schwarzenberg (Erzgebirge) aus unterschiedlichsten Organisationen und Bürgerbewegungen formierten FREIEN SACHSEN von den „Sicherheits“behörden als „rechtsextremistisch“ eingestuft werden. Zwar verfügt auch die Truppe um den Chemnitzer Stadtrat und Rechtsanwalt Martin Kohlmann über kommunale Mandatsträger im mittleren zweistelligen Bereich, doch beschränkt sie sich nicht auf die parlamentarische Arbeit, die im großen ganzen ohnehin einem Hamsterrad ähnelt. Stattdessen begeben sich die FREIEN SACHSEN mit Vehemenz an die Bürgerfront. Ob nun im Zuge der Proteste gegen die Corona-Zwangsmaßnahmen, gegen die geradezu feuergefährliche Energiepolitik der Herrschenden oder bei Kundgebungen gegen immer neue Asylantenheime – die FREIEN SACHSEN waren hier nicht nur stets präsent, sondern leisteten im Vorfeld auch unermüdliche Netzwerkarbeit.
Martin Kohlmann (* 18. Juli 1977 in Karl-Marx-Stadt/Chemniz) ist Vorsitzender der 2021 gegründeten Sammlungsbewegung Freie Sachsen. Nach dem Wehrdienst von 1996 bis 1998 studierte Kohlmann Rechtswissenschaften in Leipzig und Basel. Einen Teil seines Referendariats absolvierte er im sibirischen Krasnojarsk.
Die Partei will dabei „allen bestehenden Gruppen und auch einzelnen Aktivisten ein gemeinsames Dach … bieten, unter dem die Kräfte wirkungsvoll gebündelt und Aktivitäten … koordiniert werden, ohne daß die Einzelnen sich einer fixen Doktrin unterwerfen müssen“. Der Grundkonsens besteht im „Bekenntnis zu einem freiheitlichen Sachsen, das seine historisch gewachsene Identität bewahrt und sich selbstbewußt gegenüber dreisten Vorgaben aus Brüssel und Berlin behaupten kann und will“.
Die Alt-Parteien sehen sich also vornehmlich im ländlich-kleinstädtischen Bereich zunehmender Konkurrenz ausgesetzt. Dabei kann eins schon jetzt garantiert werden: Es wird spannend bleiben in der politischen Landschaft der Bundesrepublik.
Mitgliederentwicklung ausgewählter Parteien | ||
| 1990 | 2020 |
SPD | 943 402 | 404 305 |
CDU | 789 609 | 384 204 |
Linke | 280 882 | 60 670 |
FDP | 168 217 | 77 276 |
B90/Grüne | 41 316 | 125 737 |
Quelle: statista.com
Bedingt durch den Altersfaktor, aber auch durch die letztlich den Volksinteressen zuwiderlaufende Politik verzeichnen die meisten Alt-Parteien immense Mitgliederverluste. Einzig bei den Grünen ist ein Aufwärtstrend zu verzeichnen. Ob er sich fortsetzt, bleibt abzuwarten, zumal einerseits vielen „Klimaaktivist*innen“ die Politik von Habeck und Co. schon zu kompromißlerisch ist und zum anderen der eine oder andere Grünen-Wähler sich wegen der Amateurhaftigkeit grüner Regierungspolitik bereits mit Grausen abgewandt hat.
Das Rathaus, ein meist repräsentatives Gebäude und (Haupt-)Verwaltungssitz der Gemeinde- oder Stadtverwaltung, ist Sitzungs- und Tagungsort des Gemeinde- oder Stadtrates. In den deutschen Stadtstaaten dient es oft auch als Sitz des Landesparlamentes. Im Bild: das Rathaus der mittelfränkischen Stadt Rothenburg ob der Tauber (14.-16. Jahrhundert)
Titelphoto: Das Rathaus, ein meist repräsentatives Gebäude und (Haupt-)Verwaltungssitz der Gemeinde- oder Stadtverwaltung, ist Sitzungs- und Tagungsort des Gemeinde- oder Stadtrates. In den deutschen Stadtstaaten dient es oft auch als Sitz des Landesparlamentes. Im Bild: das Rathaus der mittelfränkischen Stadt Rothenburg ob der Tauber (14.-16. Jahrhundert).