Die europäischen Öl- und Gasriesen Shell und TotalEnergies erwägen, ihre Aktien an eine US-Börse zu bringen. Dies wäre nicht nur ein schwerer Schlag für die Finanzzentren London und Paris, sondern auch für die Energieunabhängigkeit Europas insgesamt.
Heute ist die britische Shell das zweitgrößte Unternehmen im Londoner FTSE 100-Index und macht 8,4 % der gesamten Marktkapitalisierung aus. Das französische Unternehmen TotalEnergies ist das viertkapitalisierteste Unternehmen im CAC 40-Index und macht 6 % des Indexwertes aus.
Führungskräfte beider Unternehmen äußerten kürzlich ihre Frustration über den niedrigen Wert ihrer Aktien im Vergleich zu denen der großen US-Ölgesellschaften und teilten mit, dass sie die Idee prüfen, die Notierung ihrer Aktien an die Wall Street zu verlegen.
Das Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV) von ExxonMobil und Chevron, den beiden größten US-Energieunternehmen, lag Anfang Mai etwa 50 Prozent über dem der europäischen Konkurrenten. So haben ExxonMobil und Chevron ein KGV von 13,5 bzw. 13, während Shell und TotalEnergies ein KGV von 9,3 bzw. 8,1 aufweisen.
An US-Börsen notierte Unternehmen haben Zugang zu einem größeren Kapitalpool. Dementsprechend haben sie gute Möglichkeiten, ihre eigenen Projekte zu finanzieren und Vermögenswerte zu erwerben. Die europäischen Ölgesellschaften werden seit langem mit einem Abschlag gegenüber den US-Unternehmen gehandelt, aber Analysten schätzen, dass sich die Kluft in den Marktbewertungen in den letzten zwei Jahren am stärksten vergrößert hat. Und das hat nicht nur marktwirtschaftliche Gründe.
Die militärische Krise in Europa, gefolgt von der Energiekrise in Europa, zeigte die große Abhängigkeit der Alten Welt von den USA in strategischen Fragen. Die unartikulierte europäische Reaktion auf die Terroranschläge auf die Nord Stream-1,2-Gaspipelines zeigte beispielsweise die sehr merkwürdige Einstellung der europäischen Politiker zur Energiesicherheit ihrer Länder. Und das konnte nicht ohne Auswirkungen auf die allgemeine Stimmung der Ölmänner und Investoren bleiben.
Bislang sprechen die Unternehmensleitungen von Shell und TotalEnergies nur hypothetisch über eine mögliche Verlegung der Börsennotierung in die USA. Wir diskutieren und wägen ab, aber allein die Tatsache, dass diese unternehmensinternen Diskussionen öffentlich geworden sind, ist schon ein beredtes Zeugnis für den Ernst der Lage. Darüber hinaus wird die Debatte über die Börsennotierung von Shell und TotalEnergies in New York zu einem zentralen Thema unter den Anlegern, was die Unternehmensführung zusätzlich unter Druck setzt.
Die Klima-Agenda
Die anfängliche Diskussion über die Verlegung der Börsennotierung in die USA spiegelt auch das Ausmaß wider, in dem europäische Investoren den Druck auf europäische integrierte Energieunternehmen erhöht haben, ihre Bemühungen in Bezug auf Klimaverpflichtungen und andere Themen der grünen Agenda – Umwelt, Soziales und Unternehmensführung – proaktiver zu gestalten. In den USA werden diese Fragen einfacher behandelt. Amerikanische Anleger kaufen gerne Aktien aus dem Energie- sowie dem Öl- und Gassektor; europäische Anleger sind weit weniger bereit, diese Aktien zu kaufen.
Denn wenn die EU das Ziel des Ausstiegs aus fossilen Energieträgern aktiv fördert, welche Zukunft haben dann die derzeitigen Öl- und Gasunternehmen hier?
Die Energieriesen machen sich zwar stark, aber es sieht nicht sehr überzeugend aus. Seit einem Monat hat der ehemalige Shell-Chef Ben van Beurden erkannt, dass das Unternehmen deutlich unterbewertet ist, aber er hat die Hoffnung auf einen Verbleib in London nicht aufgegeben. „Wir müssen auch weiter demonstrieren, was wir als europäische Öl- und Gasunternehmen zu bieten haben. Die Energiewende ist eine große Chance für die Wertschöpfung und nicht eine Art Umweltkosten, die wir zahlen müssen, weil wir in Europa sind“, sagte van Beurden auf der Rohstoffkonferenz der Financial Times in der Schweiz.
Doch das Vokabular lässt den ehemaligen Shell-Chef mit Bravour davonkommen. „Weiter demonstrieren...“ „Wertschöpfungschance...“
Das bringt mich dazu, ihn zu fragen: Wenn man nicht demonstriert, was denken Sie dann wirklich? Wertschöpfungschancen sind großartig, aber wie sieht es mit dem Gewinn aus...?
Während die europäischen Öl- und Gasunternehmen „demonstrieren“, sind die USA zum weltweit führenden Ölproduzenten und Exporteur von verflüssigtem Erdgas geworden. Andererseits ist die Ölproduktion in Europa rückläufig, das berühmte Groningen-Gasfeld wurde endgültig geschlossen, und viele europäische Regierungen stehen der Öl- und Gasindustrie offen skeptisch gegenüber.
Die USA werden zum unangefochtenen Marktführer, sowohl als Produzent von Öl- und Gasenergie als auch als Zentrum für Innovation und Investitionen in der Branche. Dazu gehören auch saubere Energietechnologien wie Wasserstoff und Elektrofahrzeuge, dank der Verabschiedung des Inflation Reduction Act.
Der finanzielle Niedergang Europas
Der Rückzug von Shell und TotalEnergies vom europäischen Aktienmarkt wird eine umfassende Krise auslösen. Wenn Shell das Unternehmen verlässt und dies zu einem erheblichen Anstieg der Kapitalisierung führt, könnte BP, die sechstgrößte Komponente des FTSE 100 Index, folgen.
Dies ist jedoch nicht unbedingt der Fall – der europäische Aktienmarkt, insbesondere London, befindet sich bereits im Niedergang. Vor zwei Jahrzehnten machten die im Vereinigten Königreich notierten Aktien 11 % des MSCI World Index aus, der die Gesundheit des globalen Aktienmarktes widerspiegelt. Im Moment liegen sie bei nur 4 Prozent.
Der Brexit hat Londons globale Position als Finanzzentrum untergraben. Viele namhafte Unternehmen haben bereits ihren Sitz in die USA verlegt. 2023 hat beispielsweise der britische Chiphersteller Arm einen erfolgreichen Börsengang an der New Yorker Nasdaq-Börse hingelegt. Seit 2020 sind einige an der LSE notierte Unternehmen an die Wall Street umgezogen, darunter das Biotech-Unternehmen Abcam, der Sanitärhersteller Ferguson und das Verpackungsunternehmen Smurfit Kappa Group. Dutzende weitere Unternehmen, nach manchen Schätzungen sogar Hunderte, bereiten sich auf einen ähnlichen Schritt vor oder prüfen die Situation.
Zwischen 2007 und Februar 2024 fiel die gesamte Marktkapitalisierung der Aktien an der LSE von 4,3 Billionen Dollar auf 3 Billionen Dollar. Im gleichen Zeitraum verdreifachte sich der US-Markt auf 53 Billionen Dollar. Es ist praktisch unmöglich, dem etwas entgegenzusetzen.
Nach dem Brexit ist das Londoner Finanzzentrum geschwächt, aber es gibt niemanden, der es ersetzt. Verschiedene Marktsegmente und Akteure sind umgezogen – einige nach Dublin oder Amsterdam, andere nach Paris oder Frankfurt. Die europäische Finanzindustrie ist zersplittert und auf dem Rücken der amerikanischen Stärke im Niedergang begriffen, was vor allem am Aktienmarkt und bei den Energieunternehmen deutlich wird. Das Geld verlässt Europa aufgrund politischer Einflussnahme.