Der Amoklauf von Hamburg

Wenn Groll zu Zorn, Zorn zur Wut und schließlich Wut zum Haß wird...

„Und er hat sie versammelt an einen Ort, der da heißt auf hebräisch Harmagedon.“ Offenbarung des Johannes, Kapitel 16, Vers 16

In einer Atmosphäre, in der Abläufe in der Politik und im Gefolge auch in der Gesellschaft aufgrund zunehmender Polarisierung und Konfrontationsrhetorik vermehrt das Bild eines – im übertragenen Sinne – Amoklaufs abgeben, lassen solche in ihrer tatsächlichen Ausführung offenbar nicht lange auf sich warten.

Die Taktung wird zumindest gefühlt kürzer, und Hamburg wurde aktuell Schauplatz eines solch tragischen Ereignisses. Am Donnerstagabend gegen 21 Uhr des 9. März fielen im Stadtteil Groß Borstel im Norden der Stadt in einem Glaubenszentrum der Zeugen Jehovas zahlreiche, teils tödliche Schüsse. Acht Menschen, darunter der Täter, kamen ums Leben, mehrere wurden zum Teil schwer verletzt. Das konkrete Tatmotiv ist nach wie vor unklar. Laut SPIEGEL sei der Täter den Behörden nicht als Extremist bekannt gewesen, allerdings ist die Extremismusvermutung in Deutschland sehr einseitig verortet.

Vieles zu den Tathintergründen gilt es erst zu ermitteln, bezüglich des Tathergangs lichten sich aber die Nebel. Im Rahmen einer Pressekonferenz wurden am Freitagmittag des 10. März unter Beteiligung von Hamburgs Innensenator Andy Grote (SPD), dem Hamburger Polizeipräsidenten Ralf Martin Meyer und weiterer Personen, wie z. B. einem Vertreter der Staatsanwaltschaft, erste Ermittlungsergebnisse bekanntgegeben. Die übliche Begleitmusik lieferten die allseits bekannten salbungsvollen Worthülsen politischer Vertreter, darunter auch von Bundeskanzler Scholz, dessen leidenschaftsloser Vortrag mittlerweile viel zu oft zu hören war, um noch authentisch zu klingen und ergriffen zu machen.

Der Amoklauf von Hamburg
Die Tatwaffe war eine Heckler & Koch, Modell P30L Kaliber 9 mm Luger.

Innensenator Grote eröffnete die Pressekonferenz mit der Betonung, daß es sich hier um die schlimmste Straftat in der jüngeren Geschichte der Stadt handelt, was zumindest dann irritierend wirkt, wenn man sich vorstellt, was seinerzeit beim G20-Gipfel zu beklagen gewesen wäre, hätte nicht eine Armee von Sicherheitskräften das schlimmste Armageddon verhindert.

Der Amoklauf von Hamburg
Die Tat geschah an einer Einrichtung der Zeugen Jehovas, dem sog. „Königreichsaal“, einer Art Gebetshaus der biblisch-apokalyptischen Sekte.

Ob das Hamburger „Amok-Konzept“ tatsächlich diese potentielle G20-Qualität beisitzt, wie bei der Pressekonferenz beschrieben, läßt sich schwerlich beurteilen, nachdem die ersten Einsatzkräfte mehr oder weniger – teils nach Feierabend – zufällig vor Ort waren, und sich v. a. der Täter selbst erschossen hatte. Es ergab sich, daß der Mörder, der sich auf seiner Website selbst als „bekennender Europäer“ und als „multikulturell“ bezeichnete, zunächst auf dem Parkplatz ein besetztes Auto mehrfach beschossen hatte, daraufhin durch die Fenster des Glaubenszentrums schoß und dann erst in das Gebäude eindrang. Insofern könnte das zeitnahe und zahlenmäßig massive Einschreiten den Täter durchaus unter Druck gesetzt und Leben gerettet haben.

D i e  Schlagzeilen kann sich jeder selbst vorstellen, hätte der Mörder über sich gepostet, er fühle sich als „treuer Deutscher“ und „kulturell dem deutschen Volkstum“ verpflichtet... Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang, daß zu dieser klaren, da selbstdokumentierten  Selbsteinschätzung des Täters in  k e i n e m  Systemmedium auch nur ein Sterbenswörtchen vermerkt worden ist; natürlich auch nicht auf der Pressekonferenz der hanseatischen Bundesbrüder.

Phillip Fusz war eben einer von ihnen, denn er „fühlt[e] sich in einem globalen Mindset wohl“, wie er auf seiner Seite schreibt. Da kann man schon mal als „objektiver Berichterstatter/in“ ein Äuglein zudrücken, wenn es um die Klärung – oder besser gesagt: Verschleierung – des Täterprofiles geht.

Eine Mitteilung auf der Pressekonferenz war hingegen durchaus interessant, und zwar die, daß die zum Einsatz gekommene und quasi als „Game Changer“ beschriebene Unterstützungspezialeinheit (USE) nicht 24/7 verfügbar sei, ja im Grunde nur sehr begrenzt. Derartige Fakten sollte man sicherheitspolitisch im Hinterkopf behalten, wenn vergleichbar des Trends in den USA aus bestimmter politischer Ecke erneut die Forderung „Defund the Police!“ (dt., „Schafft die Polizei ab!“) aufgegriffen wird.

Der Amoklauf von Hamburg
Der mutmaßliche Täter Philipp Fusz war „bekennender Europäer“ und schwärmte von „Multikulti“. Als „global mindsetter“, so seine Selbsteinschätzung, veranstaltete er sein ganz privates Harmagedon.

Über den ursprünglich aus Kempten im Allgäu stammenden Täter Phillip F. wurde unter anderem bekannt, daß er selbst bis vor etwa eineinhalb Jahren den Zeugen Jehovas angehörte, diese jedoch aus eigenen Stücken verlassen haben soll. Nähere Beweggründe für diesen Schritt wurden nicht genannt. Er war legal im Besitz der Tatwaffe, da er seit Dezember 2022 über eine Waffenbesitzkarte als Sportschütze verfügte. Ob er berechtigt war, in dem Ausmaß Munition vorrätig zu halten, wie er sie zur Tatzeit mit sich führte und überdies zu Hause hortete, ist noch unklar.

Vor Ort verschoß der 35-jährige Phillip Fusz mehrere Magazine. Insgesamt ist von 9 mal 15 Schuß die Rede. Der Täter wird zwar als „strafrechtlich unauffällig“ beschrieben, allerdings ergab die Pressekonferenz seitens Recherchen der Medienvertreter, daß es über diesen aus dessen Zeit in München Hinweise auf Drogenmißbrauch gab, die jedoch der Hamburger Polizei nicht bekannt sind. Dies hätte womöglich zu einer anderen waffenrechtlichen Beurteilung führen können.

Eine unangemeldete waffenrechtliche Kontrolle, die keinerlei relevante Beanstandungen ergeben haben soll, erfolgte aufgrund eines anonymen Hinweises bei der Waffenbehörde, die auf Phillip Fusz' angeblich gestörte Persönlichkeit abzielte und bereits einen Haß auf religiöse Gruppierungen unterstellte. Eine Rechtsgrundlage für ein nachfolgend fachpsychologisches Zeugnis sei daraus aber nicht abzuleiten gewesen, rechtfertigt sich die Behörde.

Die Medienvertreter versäumten auf der Pressekonferenz danach zu fragen, ob nach besagtem anonymen Hinweis die Zeugen Jehovas im Sinne einer prophylaktischen Warnung eine Ansprache als potenziell Gefährdete erhielten. Die anwesenden Journalisten interessierten sich mehr für die Nationalitäten der Opfer. Die acht Todesopfer waren zwischen 33 und 62 Jahre alt, sowie ein Fötus in der 28. Woche, der nach einem Bauchschuß, den die Mutter schwerverletzt überlebte, verstarb.

Es ist unschwer zu vermuten, daß dieses tragische Ereignis die Rufe nach einer weiteren Verschärfung des Waffenrechts laut werden lassen. Doch sollte in Betracht gezogen werden, inwiefern juristische Paragraphen in ihrer Wirksamkeit mit einem beschleunigten Werteverfall innerhalb einer fragmentierten Gesellschaft Schritt halten können. Kriminalität und Amokläufe sind nicht allein eine Frage des Waffenrechts, sondern reichen bezüglich Ursache und Wirkung gesellschaftlich tiefer.

Bei einer näheren Bewertung der Person des Attentäters, der aus einer streng evangelikalen Familie stammte und nach seiner Lehre zum Bankkaufmann Betriebswirtschaft studierte, kommen allerdings einige Fragen auf.

In seinem am 22. Dezember veröffentlichten, auf Englisch verfaßten Buch mit dem Titel „The Truth About God, Jesus Christ and Satan: A New Reflected View of Epochal Dimensions“ – 306 Seiten zum Preis von € 62,40 als Taschenbuchausgabe; der Autor selbst bezeichnete es als „ein Standardwerk, wenn es um Theologie und Recht geht“ – werde „das Geheimnis des 1.000-jährigen Reiches Christi gelüftet und ein fundierter, auf Fakten basierender Ausblick gegeben“. Das „Tausendjährige Reich“ hat in diesem Kontext ausnahmsweise einmal nichts mit Hitler zu tun, sondern es bezeichnet den Glauben an die Wiederkunft Christi, den sogenannten Millenarismus. Der Begriff wird auch allgemein als Bezeichnung für den Glauben an das nahe Ende der gegenwärtigen Welt verwendet, dem die Bibelforscher, also die Zeugen Jehovas, huldigen.

„Entgegen der landläufigen Meinung sind Gott, Jesus Christus und Satan keine abstrakten Wesen im Himmel“, heißt es in der Buchbeschreibung. „Nein, vielmehr haben wir es mit sehr mächtigen geistigen Wesen zu tun, die genau wie wir Menschen Gefühle haben und deshalb auch teilweise impulsiv handeln.“ – Sah sich Phillip Fusz als Retter, als Erlöser oder als rächender Satan?

Teuflisch teuer waren zumindest Phillips Honorarkosten, die er auf seiner Homepage für Beratertätigkeiten anbot, unter anderem in den Bereichen „Controlling“ und „Theologie“. Seit Kindesbeine ein Opfer fundamental-christlicher Gehirnwäsche – zuerst evangelikaler, dann seitens der Zeugen Jehovahs – lebte er schon länger in einer Scheinwelt. Für seine Dienstleistungen verlangte er mindestens 250.000 Euro plus 19 Prozent Mehrwehrsteuer pro Tag. Dafür verspricht er seinen Kunden „mindestens 2,5 Millionen Euro“ Mehrwert.

Wenn diese Prophezeiung nicht das Paradies auf Erden bedeutet, was dann?

Wenn Groll zu Zorn, Zorn zur Wut und schließlich Wut zu unbändigem Haß wird, ist es kein weiter Weg mehr, bis sich diese explosive psychische Gemengelage durch eine wahnwitzige Tat entlädt. Und wenn sich Menschen unter der seelisch-geistigen Käseglocke einer auf sich selbst zentrierten intoleranten Sekte – welche die Welt kategorisch in schwarz und weiß, in gut und böse aufteilt – vom Kind über den Jugendlichen zum Erwachsenen entwickeln, sind Verhaltensabnormitäten keine Seltenheit.

Die Zeugen Jehovas (früher [Ernste] Bibelforscher genannt) sind eine im ausgehenden 19. Jahrhundert in den USA von Charles Taze Russell gegründete Religionsgemeinschaft, die ihren Glauben nur von ihrem eigenen Verständnis der Bibel ableitet. Die Glaubensinhalte der Zeugen Jehovas orientieren sich deutlich an der jüdischen Denk- und Lebensweise, wie sie im Alten Testament beschrieben wird. Für sie beinhaltet die Bibel die von Gott offenbarte religiöse Wahrheit, welche die Grundlage aller religiösen Lehre ist. Angebetet wird gemäß ihres Glaubens „der allmächtige und ewige Gott“ Jehova. Es ist eine Lehre, nach der bald die Vernichtung des (bösen) Systems der Dinge auf Erden erfolgen wird, den nur die wahren Gläubigen überleben werden (Bibeloffenbarung).

Der Amoklauf von Hamburg
Charles Taze Russell (1852-1916) war Mitgründer des religiösen Verlages der Wachtturm-Gesellschaft und der sich anschließenden Internationalen Bibelforscher-Vereinigung (1910), den heutigen Zeugen Jehovas (1931).

Was kaum jemand weiß: Nach eigenen Angaben der Zeugen Jehovas ist das anglo-amerikanische System der Feind. Im Ersten Weltkrieg weigerten sich die Zeugen Jehovas als radikale Kriegsdienstverweigerer und Pazifisten, die Kriegspropaganda der (offiziell noch neutralen) USA gegen das Deutsche Reich mitzutragen, da diese verlangte, Propaganda in den zwei von den Zeugen Jehovas herausgegeben Zeitschriften zu verbreiten. Daraufhin wurden alle Vorstände der Bibelforscher verhaftet und inhaftiert. Eine solche Inhaftierung wurde auch in anderen Ländern vollzogen.

Auch im Zweiten Weltkrieg gehörten die Zeitschriften „The Watch Tower“ und „Bible Student“ zu den einzigen Publikationen in den USA, die ihre Beteiligung an einer gegen Deutschland gerichteten Propaganda verweigerten und deshalb während des Krieges in den USA verboten wurden.

Und last but not least: Am 25. Juni 1933 fand eine Tagung der Zeugen Jehovahs in Berlin statt. Im Anschluß an diese wurde unter dem zweiten Präsidenten, Joseph Franklin Rutherford, ein Schreiben mit einer beigefügten Erklärung an den damaligen Reichskanzler Adolf Hitler gerichtet, welche auch durch den deutschsprachigen „Wachtturm“ verbreitet wurde. Darin wurde der Punkt 24 des Programmes der NSDAP als „gerechter Grundsatz“ bezeichnet. Dort wird von den Nationalsozialisten die Freiheit des Glaubenbekenntnisses gefordert, solange dies nicht der staatlichen Ordnung oder der deutschen Sittlichkeit zuwiderläuft.

Auffällig bis penetrant wirken die Zeugen Jehovas durch ihre stetig betriebenen Missionsversuche, die absolute Verweigerung von Bluttransfusionen, ihre strikte Wehrdienstverweigerung und die Ablehnung aller religiösen und weltlichen Feste, wie beispielsweise Geburtstag oder Weihnachten.

Wegen

  • der Ansprüche auf Loyalität und Gehorsam, welche die Wachtturmgesellschaft erhebt,
  • der Intoleranz gegenüber abweichenden religiösen Überzeugungen und Praktiken und
  • der Praxis des Ausschlusses und der anschließenden Meidung von Mitgliedern

beschreiben Kritiker die Führung der Religionsgemeinschaft als autokratisch und totalitär.

Nach Aussage des Soziologen Andrew Holden wird Mitgliedern, die sich entschließen, die Religionsgemeinschaft zu verlassen, nur selten ein würdiger Austritt gewährt. Nicht nur werde ihre Exkommunikation öffentlich bekannt gemacht, sie würden auch als „geistig krank“ und als „Apostaten“ (dt., Abtrünnige) verdammt.

In den Veröffentlichungen der Wachtturmgesellschaft wird davon abgeraten, die Glaubenslehren in Frage zu stellen, da der Gesellschaft als „Gottes Organisation“ vertraut werden müsse. Es wird empfohlen, „unabhängiges Denken zu vermeiden“, da es von Satan beeinflußt sei und Uneinigkeit verursache. („Der Wachtturm“, 15. April 1983, S. 18 ff.)

Nach dem Urteil von Kritikern kultiviere die Wachtturmgesellschaft ein System fraglosen Gehorsams, indem sie individuelle Entscheidungsfindung verächtlich mache. Mitglieder der Zeugen Jehovas würden geistig dominiert, teilweise sogar geistig isoliert, was nach Ansicht des ehemaligen Mitglieds der Leitenden Körperschaft Raymond Franz alles Elemente von „Gedankenkontrolle“ seien. (Raymond Franz: „In Search of Christian Freedom“; Commentary Press, 1991, Kap. 12)

Der Amoklauf von Hamburg
Kenneth E. Cook jr. ist seit dem 24. 1. 2018 Mitglied der Leitenden Körperschaft von Jehovas Zeugen.

Ein pikantes Detail zum Schluß: 2023 behauptete der führende US-amerikanische Zeuge Jehovas, Kenneth Cook, Gott hasse Schwule, Trans-Menschen und alle, die sich für Abtreibungsrechte stark machen. Cook zufolge würde Jehovas diese Menschen bald „erledigen“, da sie „Gesandte Satans“ seien, um die Welt zugrunde zu richten. (queer.de, 9. Februar 2023)

„Political correctness“ sieht anders aus...

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