Fast ein Jahr lang unterstützt der Westen nun die Ukraine in ihrem Kampf gegen Rußland. Inzwischen gibt es dabei keine Hemmungen mehr. Nach der Entscheidung, Kampfpanzer zu liefern, wird jetzt bereits über Kampfjets und Langstreckenraketen gesprochen, mit denen auch die Krim und das russische Kernterritorium beschossen werden können.
Aber die exzessiven Waffenlieferungen haben auch eine Kehrseite: der Westen hat sich verausgabt. Die Arsenale haben sich in besorgniserregendem Maße geleert, und den westlichen Streitkräften gehen nun selbst die Waffen aus. Auch die größte NATO-Militärmacht, die USA, sind davon betroffen.
Dazu finden sich seit kurzem jede Menge Zahlen und Grafiken in einer aktuellen Studie, die die US-Denkfabrik CSIS (Center for Strategic & International Studies) im Januar veröffentlicht hat. Der renommierte think tank mit Sitz in Washington D.C. unterhält zahlreiche Forschungsprogramme zu Fragen der Sicherheits-, Verteidigungs- und Geopolitik. Das SCIS will die jetzt vorgestellte Studie von Seth G. Jones als Alarmruf verstanden wissen. Titel: „Empty Bins in a Wartime Environment. The Challenge to the U.S. Industrial Base“ – heißt übersetzt soviel wie: „Leere Kisten in Kriegszeiten. Die Herausforderung für die industrielle Basis der Vereinigten Staaten“.
Der Politikwissenschaftler Seth G. Jones (* 2. Oktober 1972) ist in führender Funktion bei der Rand Corporation sowie als Honorarprofessor an der Georgetown University in Washington, D.C., und an der Naval Postgraduate School in Monterey tätig. Jones war in verschiedenen militärischen Verwendungen für das US Special Operations Command aktiv. Bis Mai 2010 war er in Afghanistan als Planungsoffizier und Berater des kommandierenden Generals der United States Special Operations-Kräfte eingesetzt. Seitdem ist er Repräsentant des Kommandeurs des U.S. Special Operations Command beim US-Verteidigungsminister. Zu den von der Rand Corporation bearbeiteten Themen gehörten in den letzten Jahren unter anderem Strategien zur Destabilisierung Russlands und Überlegungen zum Krieg gegen China.
Jones kommt zu einem alarmierenden Befund, den er gleich auf den ersten Seiten formuliert: „(...) In einem größeren regionalen Konflikt – wie etwa einem Krieg mit China in der Taiwan-Straße – würde der amerikanische Munitionsverbrauch die derzeitigen Lagerbestände des US-Verteidigungsministeriums wahrscheinlich überfordern und zum Problem der ‚leeren Kisten‘ führen. So würden die Vereinigten Staaten in einem Konflikt um Taiwan (...) wahrscheinlich bereits in weniger als einer Woche mit einem Mangel bei einigen Munitionsarten zu kämpfen haben, zum Beispiel im Bereich weitreichender Präzisionsgeschosse. Diese Knappheit würde es für die Vereinigten Staaten extrem schwierig machen, einen sich länger hinziehenden Konflikt durchzuhalten.“
Der Krieg in der Ukraine hat die NATO kalt erwischt. Sie hat sich jahrzehntelang der Illusion hingegeben, Kriege nur aus der Luft und mit „smarten“ Präzisionswaffen führen zu können. Die westlichen Streitkräfte konnten sich dabei durch die Erfahrungen der Irak-Kriege (1991, 2003) und des Überfalls auf Jugoslawien im Frühjahr 1999 bestätigt sehen. In der Folge vernachlässigten sie ihre Fähigkeiten in der konventionellen Kriegführung.
Doch nun sieht sich der Westen in der Ukraine mit einem erstaunlich traditionellen Krieg konfrontiert und muß feststellen: die russische Seite hat – allen Prognosen zum Trotz, Putin würden bald die Munitionsvorräte ausgehen – den längeren Atem. Auch die CSIS-Studie stellt ernüchtert fest: „Die US-Streitkräfte haben zu wenig in Waffensysteme und Munition für einen konventionellen Krieg investiert (...). Wie der Krieg in der Ukraine zeigt, wird sich ein Krieg zwischen größeren Mächten wahrscheinlich zu einem sich länger hinziehenden Krieg im industriellen Stil hinziehen, der eine stabile Rüstungsindustrie braucht, um genug Munition und andere Waffensysteme für einen längeren Krieg zu produzieren.“
Genau dazu ist die US-Rüstungsindustrie aber derzeit nicht in der Lage. Die Studie läßt keinen Zweifel daran, daß der Ukrainekrieg mit seinen immensen Materiallieferungen und einer Verteidigungsindustrie, die noch im Friedensmodus arbeitet, den strategischen Zielen Washingtons zuwiderläuft. Denn der große Gegner ist eigentlich nicht Rußland, das „nur“ ausbluten und zu weiteren Waffengängen nicht mehr fähig sein soll, sondern China. Spätestens seit den neunziger Jahren, als sich das Reich der Mitte zum ökonomischen Konkurrenten für die USA zu mausern begann, münden alle Planungen der US-Strategen in den großen Krieg mit China, den das Pentagon etwa um das Jahr 2025 erwartet. Aber: die US-Industrie wäre derzeit nicht auf ihn vorbereitet, warnt die CSIS-Untersuchung.
Die Chinesen, so die Prognose, verfügen mittlerweile über ein leistungsfähiges Luftabwehrsystem und starke Marine- und Luftstreitkräfte. Die US-Verbände wären auf größere Stückzahlen an JASSM-ER-Schiffsabwehrraketen angewiesen, die Ziele auf eine Entfernung bis zu 925 Kilometern bekämpfen können – doch die US-amerikanischen Bestände wären innerhalb einer Woche aufgebraucht. Die Situation wird dadurch noch erschwert, daß die Fertigung moderner High-Tech-Systeme wie der JASSM-ER, aber auch der üblichen „Tomahawk“-Marschflugkörper derzeit bis zu 25 Monate, also mehr als zwei Jahre, in Anspruch nimmt.
Bei der AGM-158 JASSM (Joint Air-to-Surface Standoff Missile) handelt es sich um einen Luft-Boden-Marschflugkörper mittlerer bis hoher Reichweite. Sie wird von dem US-Konzern Lockheed Martin produziert.
Die CSIS-Studie führt den Bevorratungsstand wichtiger Waffensysteme in den US-Arsenalen auf und dokumentiert auch, wo mittlerweile (Wieder-)Beschaffungsprogramme angelaufen sind. Das Ergebnis ist ernüchternd. So werden niedrige Bevorratungsstände unter anderem für „Stinger“-Fliegerfäuste, 155-mm-Haubitzen (plus Munition) sowie Artillerie-Aufklärungs-Radare verzeichnet. Von insgesamt 78 Waffensystemen, Munitionsarten und anderem technischen Gerät wurden (Stand: Anfang Januar) nur für ganze sieben Systeme Produktionsaufträge mit den Herstellern verhandelt – bis zur Lieferung können Jahre vergehen.
Auch Mangelware im Kriegsfall: Die FIM-92 „Stinger“, eine infrarotgelenkte Flugabwehrrakete des US-amerikanischen Herstellers Raytheon, die gegen Luftziele eingesetzt wird. Sie kann entweder von der Schulter aus oder von Land-, Luft- oder Wasserfahrzeugen abgefeuert werden.
Es gelte nun, resümiert Studienautor Seth G. Jones, die US-Rüstungsindustrie anzukurbeln und so rasch als möglich auf Kriegswirtschaft umzustellen. Zur Planungssicherheit der Rüstungshersteller müßten verstärkt mehrjährige Lieferverträge abgeschlossen werden, für viele Produkte müsse die Produktion breiter aufgestellt und auch auf die Verbündeten ausgeweitet werden. Vor allem aber müßten die Arsenale wieder mit größeren Vorräten für längere Konflikte ausgestattet werden. Anders ausgedrückt: an friedlichen Lösungen ist Uncle Sam nicht interessiert. Die US-Waffenhersteller lechzen nach Profiten. Jetzt geht es erst richtig los.