Der Papiertiger

Die Wahrheit über die Sanktionen: Die russischen Exporte in den Westen nehmen nicht ab, sondern zu

Unmittelbar nach Ausbruch des Krieges in der Ukraine gab Bundesaußenministerin Baerbock (Grüne) großspurig als neues Ziel der deutschen Politik aus, man wolle Rußland "ruinieren". Ein dreiviertel Jahr später ist davon nicht mehr viel übriggeblieben. Von der angestrebten internationalen Isolierung Rußlands kann keine Rede sein – aber nicht einmal die selbstauferlegten Handelsbeschränkungen mit Rußland konnte Deutschland auch nur annähernd durchhalten.

Erstaunlicherweise ist sogar das Gegenteil der Fall: der Wirtschaftsaustausch zwischen Deutschland und Rußland nahm in den letzten Monaten nicht etwa ab, sondern zu. Die angeblichen "Sanktionen" des Westens sind in Wahrheit ein Papiertiger.

Die "New York Times" wollte es genauer wissen und beauftragte das in Brasilien ansässige Analyseinstitut "Observatory of Economic Complexity" (Beobachtungsstelle für wirtschaftliche Komplexität; OEC) mit Recherchen. Die Ergebnisse sind erstaunlich.

Die Analysten fanden nämlich heraus, daß von den 13 wichtigsten Handelspartnern Rußlands gerade einmal fünf ihren Handel mit der Russischen Föderation tatsächlich reduzierten: Großbritannien (-79 Prozent), Schweden (-76) und die USA (-35). Diese Länder verzeichneten einen signifikanten Rückgang ihres Handels mit Rußland.

Die meisten anderen Länder weiteten ihre Handelsbeziehungen zu Rußland erstaunlicherweise aus, und das nicht zu knapp – trotz einer zur Schau getragenen grimmigen Sanktionspolitik. So hat allein Belgien – immerhin Sitz des NATO-Hauptquartiers und zahlreicher EU-Institutionen! – seine monatlichen Einfuhren aus Rußland um unglaubliche 138 Prozent erhöht, die Niederlande um 74 und selbst Deutschland um 38 Prozent.

Und das geschieht nicht etwa heimlich und unter Umgehung der von der EU verhängten Maßnahmen, sondern ganz offiziell: allein die Niederlande, fand der niederländische Fernsehnachrichtendienst RTL Nieuws nach Gesprächen mit den Ministerien des Landes heraus, genehmigten in den letzten Monaten insgesamt 91 Ausnahmen vom Sanktionsregime und begünstigten damit einheimische Unternehmen. Dabei wurden sogar Transaktionen zugelassen, an denen russische Staatsbanken beteiligt waren – nach den Sanktionsvorschriften ist das eigentlich strikt verboten. Alles in allem kamen die niederländischen Ausnahmeregelungen rund 150 Unternehmen und Organisationen zugute, darunter Gemeinden, Schulen und Wasserverbände.

Für die OEC-Analysten ist klar, wie es zu der eklatanten Diskrepanz zwischen der offiziellen Politik und den realen Handelsbeziehungen kommt: russische Produkte, Roh- und Ausgangsstoffe sind für die Abnehmerländer nicht ersetzbar. Es gibt keine Alternativen. Wörtlich schreiben die Experten: "Die internationalen Automobilhersteller sind nach wie vor von Rußland abhängig, wenn es um Palladium und Rhodium geht, die für die Herstellung von Katalysatoren benötigt werden. Französische Kernkraftwerke sind auf russisches Uran angewiesen, und Belgien sieht sich weiterhin in einer Schlüsselrolle im russischen Diamantenhandel."

Anders formuliert: Rußland, die Rohstoff-Schatzkammer der Welt, läßt sich nicht umgehen. So entfallen auf Rußland 60 Prozent der weltweiten Asbestexporte, 28 Prozent des Roheisens, 26 Prozent der Uran-Brennelemente. Aus Rußland kommen 24 Prozent der Leinsamen-Exporte, 20 Prozent bei Nickel und Weizen und 15 Prozent aller Eisenbahnwaggons. 14 Prozent der Kalidünger, 12 Prozent der Stickstoffdünger und 13 Prozent der anderen Düngemittel werden ebenfalls aus Rußland geliefert. Ohne russisches Palladium und Rhodium würde auch die weltweite Automobilindustrie vor erheblichen Schwierigkeiten stehen.

Besonders paradox: der Wert der russischen Ausfuhren ist seit dem russischen Einmarsch in die Ukraine nicht etwa gesunken, sondern gestiegen – selbst in Staaten, die sich aktiv gegen Rußland wenden und die Sanktionen der EU am stärksten unterstützt haben.

Aber: "Es ist sehr schwierig, ohne russische Ressourcen zu leben", weiß Sergej Alexander Alexaschenko, früherer stellvertretender Finanzminister Rußlands und stellvertretender Gouverneur der russischen Zentralbank. "Es gibt keinen Ersatz."

Rußland seinerseits hat als Reaktion auf die westlichen Sanktionen die Ausfuhr von mehr als 200 Gütern untersagt, darunter Telekommunikations-, Medizin-, Automobil-, Landwirtschafts- und Elektrogeräte sowie Holzprodukte. Infolgedessen ging zum Beispiel das deutsche Handelsvolumen mit Rußland um drei Prozent zurück. Aber: das Minus liegt zum weitaus überwiegenden Teil auf der deutschen Seite, während die russische Seite profitierte – die deutschen Warenexporte nach Rußland gingen um 51 Prozent zurück, während die deutschen Einfuhren aus Rußland gleichzeitig um beachtliche 38 Prozent nach oben gingen.

Besonders wichtig sind die Einfuhren aus Rußland für die deutsche Automobilindustrie, das Rückgrat des Industriestandorts Deutschland: "Ein durchschnittliches deutsches Auto im Wert von 50.000 Euro enthält etwa 500 Euro russische Wertschöpfung, davon 150 Euro russische Energieprodukte und 350 Euro andere Produkte", bilanzieren die OEC-Analysten. Auch die deutsche Chemie-Industrie ist extrem von russischen Produkten abhängig.

Die russische Führung hat angesichts der Entwicklung Grund zur Zufriedenheit. Auch im Kreml ist nicht verborgen geblieben, daß die westlichen Sanktionen zum Gutteil ins Leere gelaufen sind. "Nichts ist zusammengebrochen", resümierte Kremlchef Putin. Die westlichen Länder hätten "sich zum Ziel gesetzt, die russische Wirtschaft zum Einsturz zu bringen, haben dieses Ziel aber nicht erreicht".

Noch gibt sich der Westen unbelehrbar. Die EU bereitet gerade ihr neuntes (!) Sanktionspaket vor, das nunmehr auch Beschränkungen im Energiesektor vorsieht und die Zusammenarbeit mit Rußland im Nuklear- und Brennstoffbereich verbietet. Man muß kein Prophet sein, um die Prognose zu wagen, daß sich der Westen auch damit in erster Linie selbst ins Knie schießen wird.

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