Wird Lemberg Wieder Polnisch?

Polens seltsame Territorialvorstellungen

„Und jeder von Euch trägt in seiner Seele den Samen künftiger Rechte und ein Maß künftiger Grenzen.“

Der Nationaldichter Polens Adam Mickiewicz (1798-1855).

Wenn auch die im polnischen Fernsehen vor kurzem gezeigte Wetterkarte eine Fälschung sein dürfte, so hat sie doch einen realen historischen und auch aktuell-politischen Bezug. In die Wettervorhersage des Senders TVP1 fälschte man eine Karte, die Polen und Teile der Westukraine in gleicher Farbe und ohne Grenzen zeigte – eine polnisch-ukrainische Union. Was steckt dahinter?

Die gefälschte Karte korrespondiert mit eigenartigen Hintergrundaktivitäten im Windschatten des Ukraine-Krieges. Polen hat sich seit seinem NATO-Beitritt im Jahr 2004 nicht nur zum Musterschüler des westlichen Militärbündnisses und zum willigsten US-Vasallen in Europa gemausert. Polen gehört auch zu den eifrigsten Unterstützern der Ukraine, hat von allen europäischen Ländern die meisten Ukraine-Flüchtlinge aufgenommen und machte jüngst auch den meisten Druck auf Deutschland, endlich deutsche „Leopard“-Kampfpanzer in die Ukraine zu schicken. Diese werden nun – der Entschluß wurde am 24. Januar von Kanzler Scholz getroffen – auch geliefert.

Hauptüberschrift/Main caption: Polen offenbarte bereits zwischen den Weltkriegen seinen Landhunger mit Karten.

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Polnisches Expansionsstreben Juni 1939. Die dicke Linie zeigt die „historische Westgrenze Polens“. Das gewünschte polnische Territorium umfaßt die Slowakei, die Tschechei, Schlesien, Pommern, Westpreußen und Ostpreußen und grenzt bis an Berlin und Dresden. Die dünne Linie markiert die „heutige Westgrenze Polens“ (Juni 1939).

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Karte von Stanisław Wendeker über die „weiteste Ausdehnung des polnischen Staates im Laufe der Jahrhunderte“. (Stanisław Wendeker war ein chauvinistischer Aktivist. Er arbeitete eng mit der wissenschaftlichen Zeitschrift „Sprawy Narowodościowe“ zusammen, die sich der interdisziplinären Untersuchung von Nationalismus und Ethnizität widmete.)

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Eine 1939 von polnischen Chauvinisten abgedruckte Karte über Polens Traum vom Großreich. Deutschland hätte so nur 30–40 % seines natürlichen Gebietes behalten sollen. Die im besetzten Posen erscheinende polnische Zeitung „Dziennik Poznanski“ druckte am 26. Juni 1939 diese Karte ab, die polnische Gebietsansprüche gegen Deutschland belegen sollte.

Aber auch gen Osten – in die Ukraine – schweifte schon damals der lüsterne polnische Blick. Der französische Autor Dr. iur. Pierre Valmigère schrieb bereits anno 1929: „Weiß Frankreich, daß dieses Polen noch nicht zufrieden mit seinen 40 Prozent Fremdstämmigen ist und daß es die Großmannssucht und den Kilometerwahnsinn soweit treibt, Schlesien von Beuthen bis Oppeln, die ganze Ukraine, Danzig, und Ostpreußen aufsaugen zu wollen? – Wilna ist der erste Anfall dieses nationalistischen Fiebers. – Ich habe hier die Reden seiner Staatsmänner, seine Zeitungen und Bücher vor mir liegen. Niemals ist in der Geschichte der Heißhunger nach Land bis zu einem derartigen Wahnsinn getrieben worden. Und die Völker, deren es sich bemächtigt hat, die tyrannisiert es, beleidigt es und zermürbt es.“ (Pierre Valmigère: „Und morgen...? Frankreich, Deutschland und Polen“; Brückenverlag, Berlin, 1929, S. 12)

Es ist inzwischen ein offenes Geheimnis, daß Warschau im kriegsgeschüttelten Nachbarland sehr spezielle, sehr eigene Ziele verfolgt.

Dabei geht es zum einen um das alte Intermarium-Projekt „Od morza do morza“ (dt., „Von Meer [Ostsee] zu Meer [Schwarzes Meer]) aus der Zwischenkriegszeit, ein Lieblingsprojekt des Marschalls Piłsudski, das seit einigen Jahren mit kräftiger Unterstützung aus Washington revitalisiert und derzeit als „Drei-Meere-Initiative“ verwirklicht wird.

Das Projekt hat die Wiederbelebung der alten polnischen Regionalmacht zum Ziel (und die wirksame Verhinderung eines deutsch-russischen Zusammengehens). Washington liebt es nämlich, sich seit seiner Abwendung von der Monroe-Doktrin psychologisch und materiell aufgeblähter Regionalmächte als Provokateure zu bedienen. Als transatlantische Transmissionsriemen dienten und dienen London und Paris. Bei den störrischen Deutschen scheinen die Zahnräder immer noch nicht „adäquat“ justiert worden zu sein.

Polen „von Meer zu Meer“ ist weit mehr als nur ein literarischer Topos, der die Macht Polens zum Ausdruck bringen soll, die sich während der Herrschaft der Jagiellonen-Dynastie ab dem 15. Jahrhundert von der Ostsee im Nordwesten bis zum Schwarzen Meer im Südosten erstreckt hatte.

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Größte Einflußsphäre der Jagiellonen in Europa seit 1490 durch den Erwerb der ungarischen Krone bis zur Schlacht bei Mohács 1526, dem Beginn der fast 200 Jahre dauernden Türkenkriege in Mitteleuropa.

Schon Jan Kochanowski lobte 1564 in seinem Werk „Satyr oder ein wilder Mann“ Polen, das „seine Grenzen zwischen zwei Meeren ausgeweitet“ habe.

„Pomnę ja przed laty,

że w Polsce żaden nie był w pieniądz bogaty

Kmieca to rzecz na on czas, patrzeć rolnej były

A Szlachta się rycerskim rzemiosłem bawiły

Tym ci Polska urosła, a granice swoje

Rozciągnęła szeroko między morza dwoje.

CHWAŁA WIELKIEJ POLSCE!“

„Ich erinnere mich an die Zeit vor Jahren,

daß niemand in Polen reich an Geld war.

Damals war es Sache der Bauern, das Feld zu bestellen,

Und der Adel ergötzte sich am ritterlichen Handwerk.

So wuchs Polen und seine Grenzen

Weit gestreckt zwischen zwei Meeren.

RUHM FÜR DAS GROSSE POLEN!"

Polen erhielt den Zugang zur Ostsee erst durch den Frieden von Thorn 1466, der den Dreizehnjährigen Krieg mit den Deutschen Rittern beendete, und es verlor ihn infolge der ersten Teilung Polens 1772. Die Grenzen des polnischen Staates erreichten jedoch nie direkt das andere dieser Meere, nämlich das Schwarze Meer.

Zum anderen geht es um die Ukraine selbst. Der Westteil des Landes ist eine schlecht vernarbte historische Wunde, die im geschichtsbewußten Polen noch immer schmerzt. Polen verleibte sich die Westukraine (zusammen mit großen Teilen des heutigen Litauens und Weißrußlands) 1921 im Frieden von Riga ein, nachdem es in den Kämpfen mit der Roten Armee weit nach Osten vorgestoßen war. Aber in den neuerworbenen Gebieten machten ethnische Polen außer in Lemberg und Umgebung kaum mehr als 20 Prozent der Bevölkerung aus.

Stalin bereinigte die Situation, indem er die polnische Gebietserweiterung zunächst 1939 mit dem Einmarsch in Ostpolen und dann 1945 mit der sogenannten „Westverschiebung“ Polens dauerhaft wieder rückgängig machte.

Im Fall der Ukraine kommt noch ein weiteres polnisches Trauma hinzu. In Wolhynien, Polesien und Ostgalizien richteten ukrainische Nationalisten der sogenannten „Ukrainischen Aufstandsarmee“ (UPA) 1943/44 Massaker an der polnischen Bevölkerung an, denen bis zu 300.000 Polen zum Opfer fielen.

Diese Massaker, die ihren Höhepunkt im Sommer 1943 erreichten, gehören zu den grauenhaftesten Exzessen während des Zweiten Weltkrieges. Die ukrainischen Mordbrenner scheuten sich nicht, ihre Opfer, vielfach Frauen und Kinder, teils zu zerhacken, aufzuspießen und bei lebendigem Leib zu verbrennen. Erst Stalin entzog weiterem Blutvergießen die Grundlage, indem er nach Kriegsende die verbliebene polnische Restbevölkerung in die eroberten deutschen Ostgebiete aussiedeln ließ.

Bis zum russischen Einmarsch in der Ukraine im Februar 2022 belasteten die Wolhynien-Massaker das polnisch-ukrainische Verhältnis schwer. 2013 und erneut 2016 stuften Parlament und Senat in Warschau die Ereignisse formell als Völkermord ein – während das ukrainische Parlament die Mitglieder der UPA zu Unabhängigkeitskämpfern erklärte. 2016 erklärte der Sejm den 11. Juli offiziell zum „Nationalen Gedenktag für die Opfer des von ukrainischen Nationalisten an Angehörigen der Zweiten Republik Polen begangenen Völkermords“.

Karthographische Entwicklung Polens...

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Am 5. 11. 1916 wurde in einer Erklärung des deutschen und des österreichisch-ungarischen Kaisers ein unabhängiges Polen proklamiert. Es wurde gebaut auf den Knochen deutscher Grenadiere.

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1919/21: Durch das Versailler Diktat erhielt Polen mit Westpreußen und Posen meist mehrheitlich deutschbesiedeltes Land; 1920 auch Teschen; 1921 durch das Diktat von St. Germain (10. 9. 1919) von Österreich-Ungarn auch Westgalizien; 1923 auch Ostgalizien.

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1921: Nach dem Krieg gegen Sowjet-Rußland 1920/21 behielt Polen im Frieden von Riga Teile Weißrußlands und der Ukraine sowie das östliche Litauen. Die punktiert eingezeichnete „Curzon-Linie“ gibt die östliche Volksgrenze Polens und den Vorschlag der Westalliierten von 1919/20 für die Ostgrenze Polens ab.

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1945: Auf der Potsdamer Konferenz wurde Deutschland östlich von Oder und Neiße unter sowjetische Verwaltung gestellt. Das 1921 von Polen eroberte russische Gebiet fiel an die Sowjetunion zurück.

Daß diese Wunden der Vergangenheit angesichts des aktuellen Krieges in der Ukraine plötzlich vergessen sein sollen, ist schwer zu glauben, auch wenn Polen dies glauben machen will. So bemühte sich etwa der polnische Ministerpräsident Morawiecki, aus Anlaß des Wolhynien-Gedenktages 2022 eine geschichtspolitische Kehrtwende herbeizusuggerieren – der Tag müsse „der Anfangspunkt sein, dies ist der Anfangspunkt der Versöhnung“, erklärte er im Juli.

Das mag glauben, wer will. Doch seit geraumer Zeit ereignet sich Bemerkenswertes. Im Juni machten Berichte die Runde, wonach mit Zustimmung des Kiewer Parlaments, der Rada, polnischen Bürgern in der Ukraine plötzlich zahlreiche Sonderrechte zuerkannt, vor allem aber: ein externes, von Polen verwaltetes elektronisches Kontrollsystem der ukrainischen Steuerbehörden installiert wurde. Der russische Auslandsgeheimdienst SVR gelangte zu der Einschätzung, Warschau dränge „das Selenskij-Regime mit Nachdruck dazu, ihm de facto die Kontrolle über die wichtigsten staatlichen Funktionen und Institutionen zu übertragen“. Auch der russische Außenminister Lawrow registrierte, daß polnische Behörden „mit der aktiven Erschließung des ukrainischen Territoriums beginnen“.

Schon zuvor, im Mai, hatte der polnische Staatspräsident Duda anläßlich des Nationalfeiertags in einer Rede die Hoffnung ausgedrückt, daß es bald „keine Grenze“ mehr zwischen Polen und der Ukraine geben werde. Selenskyj wiederum sprach bereits im April gar von einer „polnisch-ukrainischen Union“.

Alles zusammen eröffnet Raum für interessante Spekulationen. Bereitet sich Warschau dezent auf die „Heimholung“ seiner alten Ostgebiete vor? Kündigt sich hier womöglich die künftige Gestalt, eine Aufteilung der Ukraine an – in einen russischen Osten und Südosten sowie einen polnischen Westen? Moskau könnte einer solchen Entwicklung gelassen zusehen und den voraussehbaren Ärger mit Banderisten und Chauvinisten im Westen des Landes getrost den Polen überlassen. Auch aktuelle polnische Aufrüstungspläne erscheinen plötzlich in einem ganz anderen Licht. Und schon seit Monaten kursieren Berichte, wonach das polnische Militär Vorbereitungen für eine bevorstehende Intervention in der Ukraine trifft.

So oder so: im östlichen Vorfeld der EU zeichnen sich spannende Entwicklungen ab. Auf der europäischen Landkarte werden neue Konturen sichtbar. Und die Ukraine in ihrer heutigen Gestalt wird es vielleicht schon bald nicht mehr geben.

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