Am vergangenen Wochenende hatte das Netzwerk „Kritische Richter und Staatsanwälte“ (KRiStA) unter der Überschrift „Vom Freiheits- zum Überwachungsstaat?“ nach Berlin eingeladen. Was im Titel der Veranstaltung vorsichtig diplomatisch noch als Frage formuliert wurde, hat sich in der Wahrnehmung vieler längst als Fakt etabliert. Zu sehr sind ehemals feststehende und als unverrückbar geltende Definitionen von Begriffen aus der freiheitlich-westlichen Wertekultur ins Rutschen geraten – und letztlich zum Spielball von Ideologen geworden.
Der Rechtswissenschaftler Martin Schwab von der Universität Bielefeld beschäftigte sich in seinem Vortrag mit den aus seiner Sicht drei wichtigsten Bedrohungen für das Fundament der freiheitlichen Demokratie und nannte dabei die digitale Totalüberwachung, die Verfassungsschutz-relevante „Delegitimierung des Staates“ sowie die Bekämpfung von „Hasskriminalität“.
Die entsprechenden Begriffe sind ganz bewusst in Anführungszeichen zu setzen. Entweder handelt es sich, wie bei der „Hasskriminalität“, um ganz neue Wortschöpfungen nebst in den dazugehörigen Blasen geborenen Beschreibungen, oder die Definitionen wurden, wie bei der „Delegitimierung des Staates“, derart verzerrt, dass sie heute nur noch eine Karikatur ihrer einstigen Bedeutung darstellen.
Politisch-ideologische Instrumentalisierung des Verfassungsschutzes
Was also ist zum Beispiel unter dem vorgeblichen „Kampf gegen Hasskriminalität und Desinformation“ zu verstehen bzw. was sollen die Deutschen darunter verstehen? Schwab sieht darin nicht viel mehr als einen Kampfbegriff, der als Vorwand dient, um gegen unerwünschte Haltungen und Meinungen vorzugehen und Kritik an der Regierung, aber auch am gesamten System zu unterdrücken. Erinnert sei in diesem Zusammenhang nur an die exponentielle Zunahme von Hausdurchsuchungen, mit denen ganz offensichtlich nur ein Ziel verfolgt wird: nicht linientreue Bürger sollen eingeschüchtert werden. Wo früher kritisches (Selber)Denken nicht nur gestattet, sondern noch ausdrücklich erwünscht war, soll es jetzt nur noch gehorsame Lemminge geben.
Oder nehmen wir die digitale Totalüberwachung. Diese soll, glaubt man den offiziellen Darstellungen, in erster Linie der Terrorabwehr dienen. Dass die Instrumente, die den Behörden damit in die Hand gelegt werden, aber noch eine ganze Reihe angenehmer, weil bequemer Nebeneffekte mit sich bringen, wird dabei natürlich billigend in Kauf genommen. Selbst Falschparker oder Bürger mit den „falschen“ Freunden oder Bekannten können so schnell ins Visier der Ermittler geraten. Ganz ähnlich verhält es sich mit der „Delegitimierung des Staates“, als die mittlerweile alles gilt oder zumindest gelten kann, was auch nur den Hauch von Kritik an der Obrigkeit in sich trägt.
Und nur weil sich der Verfassungsschutz für einen vermeintlichen Staats- oder Demokratiefeind interessiert, muss das noch lange keine Bestätigung sein – womöglich ist es „im besten Deutschland aller Zeiten“ vielmehr längst zu einer Auszeichnung geworden. Wer sich vor Augen führt, dass Verfassungsschützer unter der Fuchtel der jeweils zuständigen Innenministerien stehen und sich weiter vergegenwärtigt, mit welchen offensichtlichen Interessenkonflikten das einhergeht, der wird sich seinen eigenen Reim aus alledem machen können.
Professor Schwab geht in seiner Analyse aber noch weiter. Das bisher als heilig geltende Prinzip der Unschuldsvermutung sieht Schwab durch die Entwicklung der vergangenen Jahre inzwischen vollständig aus den Angeln gehoben und ins Gegenteil verkehrt. Als besonders gefährlich bezeichnet er das diesem Prinzip des „predictive Reportings“ innewohnende Merkmal der Beweislastumkehr, wonach jeder Bürger zum potentiell Verdächtigen erklärt und schon vor der Begehung einer Straftat bestraft werden kann. Für die Augen des Staates werde dadurch jeder „zum gläsernen Menschen“ und müsse damit ein Kernelement der Menschenwürde abgeben.
Überwachungsstaat ante portas – oder schon längst Realität?
Der Psychiater Hans Joachim Maaz beschreibt diese Zustände im Deutschland anno 2025 als einen „kollektiven Wahn“, dem der Rechtsstaat und mit ihm viele Richter und Staatsanwälte verfallen seien. Die wirklich freie Meinungsäußerung sei hierzulande nur noch unter Inkaufnahme von Konsequenzen möglich, monierte Maaz, der diese auch schon selbst zu spüren bekommen hat und zum Opfer rot-grüner Cancel Culture wurde.
Doch wann genau machte sich Deutschland auf den titelgebenden Weg des Symposiums vom einstigen Freiheits- zum heutigen oder jedenfalls nicht mehr allzu weit entfernten Überwachungsstaat? Hier gingen die Ansichten der Redner durchaus etwas auseinander. Der Philosoph Harry Lehmann will das Auftreten der ersten „Ideologiemaschinen“, wie er dieses gesellschaftspolitische Phänomen nennt, ab 2013 beobachtet haben. Demnach habe spätestens die Einführung der iPhones den Übergang vom analogen ins digitale Zeitalter eingeläutet – mit allen positiven wie negativen Konsequenzen, die dieser technologische Wandel mit sich brachte und bringt.
Bei den Lehmannschen „Ideologiemaschinen“ handelt es sich selbstredend nicht um physische Objekte. Vielmehr definiert der Wortschöpfer diese in den ideologischen Weltanschauungen und nicht zuletzt den Multiplikatoren in Politik, Medien, Gesellschaft und Wirtschaft, die diese tagtäglich transportieren und damit quasi „salonfähig“ machen. Wenn eine Botschaft nur oft genug vermittelt und vom Adressaten vernommen wird – ob dieser das nun will oder nicht – dann bleibt das sicher nicht ohne Wirkung. Der sprichwörtliche Tropfen, der den Stein höhlt, dient hier sicher als anschauliche Metapher.
Dieses Prinzip kam nicht zuletzt auch in den Corona-Jahren zum Einsatz. An diese Zeit erinnerte einmal mehr der Rechtswissenschaftler Jörg Benedict von der Universität Rostock. Der Experte bezeichnete den Beginn der flächendeckenden Impfkampagne im Frühjahr 2021 sinngemäß als Geburtsstunde eines Rechtsstaates, der sich immer weiter von der Lebenswirklichkeit der Bürger verabschiedet habe: „Das Recht verliert seine Gültigkeit, wenn seine Prämissen im Widerspruch zur Realität stehen.“
Kritisches Denken wird zur existenziellen Bedrohung
Mit anderen Worten: „Im Namen des Volkes“, noch so ein an sich unantastbarer Grundsatz, hat seine Unschuld im Trommelfeuer von fragwürdigen, weil allzu offensichtlich von Ideologie getriebenen Urteilen eingebüßt. Benedict präsentierte seinen Zuhörern und Zusehern eine Collage aus Bildern und Schlagzeilen, die spätestens aus heutiger Sicht wie Realsatire wirken, vor etwas mehr als vier Jahren Richtern und Staatsanwälten aber als Rechtfertigung dienten, ganze Existenzen zu vernichten – angeblich „im Namen des Volkes“, auf jeden Fall aber im Namen von Regierungen und Medien sowie von diesen ernannten „Corona-Experten“, die einen „vollständigen Schutz“, eine „Wirksamkeit von 100 Prozent“ und vieles mehr versprochen hatten.
Die „Berliner Zeitung“ zitiert dazu eine Richterin, die anonym bleiben will und den aktuellen Ist-Zustand der Justiz so zusammenfasst: „Viele im juristischen Apparat denken nicht mehr kritisch und verurteilen. Es ist beunruhigend, wie sich dieses Phänomen schleichend etabliert hat.“ Auch davon können zahlreiche Juristen ein Klagelied anstimmen, so etwa der Familienrichter Christian Dettmar aus Weimar, der mit einem für die damalige Zeit mutigen und geradezu sensationellen Urteil versucht hat, Schaden von Kindern abzuwenden und dafür aus dem Verkehr gezogen wurde.
Auch solche Urteile ergehen kaum noch wirklich „im Namen des Volkes“, zumindest nicht in der Wahrnehmung eines wachsenden Teils der Bevölkerung, sondern werden eher als Instrumente zur Einschüchterung und deutlichen Warnung verstanden. Umso bemerkenswerter sind Initiativen wie eben das KRiStA-Netzwerk, das sich das Denken nicht nur nicht verbieten lässt, sondern diese Gedanken weiterhin offen ausspricht – und damit den Nerv vieler Bürger trifft.