Die Pandemie – die schon fast zu Ende und von vielen vergessen worden ist – hat doch vieles in unserem Alltag verändert und charakteristische „Narben“ hinterlassen. Anders gesagt: Die durch die Extremsituation formatierte Verhaltensmuster, die auch nach ihrem Ende bestehengeblieben sind. Eine dieser „Narben“ ist mit dem Konsum des sogenannten „Kulturproduktes“ verbunden, d.h. der Musik, Filme und so weiter, sowie in diesem Zusammenhang insbesondere mit der Rolle der Kultur an sich. Reflektiert man rechtzeitig auf diese Wandlung nicht und zieht keine entsprechenden Schlüsse, dürfen die Folgen tektonisch sein.
Das Coronavirus und die damit verbundenen Einschränkungen haben wesentlich den Virtualisierungsprozess der Kulturinstitutionen beschleunigt und haben sie damit dazu angeregt, das Internet nicht nur wie einen Satz der extra Optionen wahrzunehmen, sondern in vieler Hinsicht wie die Hauptplattform für ihre Tätigkeit. Worin besteht eigentlich diese schnelle „Virtualisierung“? Es ist natürlich ganz schwierig, die deutliche Grenze zu ziehen, wo sich das Internet aus einem Instrument zum Existenzterritorium verwandelt. Doch es gibt klare Merkmale, die, wie es mir scheint, eine Art Markierzeichen sind und davon zeugen, dass die Kultur im Allgemeinen schnell in der Richtung des virtuellen Raums treibt, um sich genau da anzusiedeln.
Das Erste ist mit der vor unseren Augen geschehenden Fetischiesierung „der Kultur im Internet“ verbunden, mit einem stätigen Bilden einer „Mode-Aura“ um sie herum. Jede Woche sehen wir viele Nachrichten davon, dass „ein Neuronetz ein Filmdrehbuch geschaffen hat“, „ein Neuronetz Gemälde einer Galerie auf seiner Weise gemalt hat“ und so weiter – und das mit dem zusammen, dass eine Menge der Aktivitäten, die vorher in der konventionellen Normalität stattfanden, nun in den Online-Raum umziehen, darunter auch der Lehrprozess, die Erfahrungsübermittlung im Kulturbereich. Das Hauptwertkriterium solcher Kulturveranstaltungen wird öfters ihre Verbindung mit einem der „aktuellen“ Themen – das Internet, die künstliche Intelligenz, Neuronetze und so weiter, ob sie aber wertvoll im Sinne der traditionellen Bewertung eines Kunstproduktes sind – so eine Frage stellt sich hier gar nicht. Genauso ist es mit der Effektivität der Online-Veranstaltungen oder –Studium: Den realen Nutzeffekt zu messen, ist sehr schwierig, weil Veranstalter selbst für Berichterstattung gewöhnlich irgendwelche formale Werte benutzen, wie viele Menschen die Seite während der Übertragung besucht haben oder sogar – wie viele daran theoretisch teilnehmen könnten.
Im Endeffekt beobachten wir faktisch, wie eine „parallele Kultur“ entsteht, die einen vorrangigen Status im Vergleich zur konventionellen Kultur erhält, genau deswegen, weil sie diese technologische Komponente hat und nicht wegen ihres ethischen oder ästhetischen Inhalts. Die Wirkung dieser „parallelen Kultur“ auf den Menschen ist äußerst unklar und kann sich wesentlich davon unterscheiden, was wir uns gewöhnt haben, als Ergebnis des Konsums vom gewöhnlichen „Kulturprodukt“ zu sehen.
Der zweite höchst wichtige Faktor ist meiner Ansicht nach, dass das Internet allmählich zum Hauptort für die Monetisierung der Kultur wird, und das wirkt sich auch ziemlich mächtig auf ihre „Virtualisierung“ aus. Selbst in Russland waren im Pandemie-Jahr 2020 die Einnahmen der Online-Kultur zum ersten Mal höher, als die, der Offline-Kultur (jeweils 57 und 43 Prozent). 2021 blieb dieser Trend trotz der bedeutenden Lockerung der Covid-Einschränkungen bestehen (58 und 42 Prozent). Wie bekannt, hat das alles noch Anfang 2010 mit der Musik begonnen, als dadurch, dass der massenhafte und einfache Zugang mit Handys für die Billigkeit sorgte, die Plattformen für Video- und Audiostreaming allmählich einen Marktanteil den „Hartträgern“, Konzertplattformen und Kinos wegnahmen. Die Pandemie führte ihrerseits zu einem vorbehaltslosen Sieg von Streaming, der schon irreversibel scheint. Wenn wir wiederum an die Zeit denken, wo schon die meisten Einschränkungen gelockert wurden, können wir feststellen, dass der Trend sich nur weiter verstärkt. Die Einnahmen legaler Videodienstleister nahmen im Jahr 2021 um 28 Prozent zu, die der Audiodienstleister – um 47 Prozent.
Recht kennzeichnend ist auch das Phänomen der Non-Fungible Tokens (NFT), das im Grunde genommen einen neuen Standard in die Welt der Kunst einführt und gleichzeitig sowohl ein „Kulturobjekt“, als auch eine Investitionsmöglichkeit anbietet. Die Bewertungskriterien solcher Objekte sind wiederum ganz nebelhaft („der Markt bestimmt“ ist in dem Fall eine recht verschmitzte Formulierung, weil die Mittel, mit denen der Preis für solche Objekte aufgebauscht wird, gut bekannt sind). Doch der Preis der Tokens erreicht schon Millionen Dollar und 2020 machte der Handelsumsatz solcher „Bilder“ 250 Millionen aus. Da im Unterschied zu den Gemälden von Van Gogh oder Raffael die Zahl der Objekte hier nicht begrenzt ist, kann der Markt bis zum Weißbluten wachsen, und das wird wiederum in vieler Hinsicht die Entwicklung der Kunst ausgerechnet ins Digitalfeld lenken, zumal wird Autoren ein Prozentsatz von jedem Wiederverkauf ihres Werks versprochen.
So kann man feststellen: Die Kultur wird in der einen oder anderen Form immer mehr digitalisiert, in den digitalen Raum versetzt, sei auch ihre ganze vorherige materielle Infrastruktur nicht verschwunden und immer noch mit uns geblieben. Was bedeutet denn diese Versetzung?
Warum der Digitalraum in diesem Kontext gefährlich ist, kann man anschaulich an dem Beispiel der „Revolution“ sehen, die geschah, nachdem das Internet im Informationsbereich erschienen war. Ursprünglich gab es die These: Es ist wunderbar, wenn eine endlose Menge der Informationsquellen vorhanden ist, so bekommt der Mensch ein maximal objektives Informationsbild. Doch in der Tat wurde die Zerschlagung des traditionellen Massenmediensystems zu einem Chaos, zur Qualitätsdegradierung und öfters zum Sinnesverlust für Berichterstattung, zur offenen Fakes und wirtschaftlich gesehen – zum Zusammenbruch vieler professionellen Massenmedien. Das ist deswegen passiert, weil die von ihnen hergestellten Informationen nach den Gesetzten des „freien Wettbewerbs“ gegen andere Informationen verloren haben – gegen die gefragteren. Im Internet, wo „alle gleich sind“, herrscht die berüchtigte „Wirtschaft der Aufmerksamkeit“, deswegen sehen selbst die Spielregeln voraus, dass ausgerechnet die recht primitiven Informationen mit starkem Emotionsinhalt durchgesetzt werden und der höchste Einschätzung wert sind. Nochmal: Ihre eigentliche Sinneskomponente geht öfters gen Null.
Dadurch, dass wir die Kultur in den Digitalraum versetzten, zerstören wir genauso die sich gebildete Hierarchie und stellen den angenommenen Bach dem angenommenen Morgenstern gleich, zum Qualitätsmaß jedes von ihnen machen wir dabei die Likes-Zahl. Es ist ganz einfach, vorherzusagen, wer am Ende den Sieg erringt. Noch mehr: Dadurch, dass wir die Kultur im Netz zum Objekt eines grundsätzlich anderen Bewertungssystems machen (was gut und was nicht so gut ist, bestimmt die Menschenmenge, die in der Regel die benötigten Kenntnisse und Fertigkeiten nicht hat), bekommen wir sehr bald eine ganz andere Kultur, die nun nicht mehr parallel, irgendwo im Internet existiert, sondern bestimmt, wie unsere Nachkommen aussehen werden.